8. Abstammungsrecht
Elternschaft ist eine gesellschaftliche Konstruktion, die dem steten Wandel der sozialen Wirklichkeit unterliegt.
Sind biologische, genetische und soziale Elternschaft nicht in einem Elternpaar vereinigt, muss das Recht über die Zuordnung der rechtlichen Elternschaft entscheiden.
Dabei kann die mit der medizinisch assistierten Fortpflanzung oder einer geheimen Geburt einhergehende Entstandardisierung familialer Lebensformen und -verläufe die vom Gesetzgeber einst getroffenen Wertungsentscheide in Frage stellen.
- Warum kann der genetische Vater dem Anerkennenden nicht aber dem Ehemann das väterliche Kindesverhältnis rückwirkend entziehen, wo das Kind doch in beiden Fällen von ihm abstammt?
- Ist es gerechtfertigt, die heterologe Insemination nur verheirateten Paaren zur Erfüllung ihres Kinderwunsches zur Verfügung zu stellen, wo doch der Konkubinatspartner das Kind anerkennen könnte?
- Warum wird das Recht auf Kenntnis seiner Abstammung erst dem volljährigen, durch Samenspende gezeugten oder adoptierten Kind unbedingt zugestanden, wo doch die Identitätsfindung gerade in der Pubertät zur Persönlichkeitsbildung so wichtig ist?
Bei der Diskussion, wie mit neu gewonnenen Möglichkeiten und Erkenntnissen der Gen- und Adoptionsforschung umgegangen werden soll, sind je nach Blickwinkel:
- das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung unabhängig von der Art seiner Zeugung (Art. 8 EMRK, Art. 7 Abs. 1 UN-KRK, Art. 10 Abs. 2 BV [Anspruch auf Persönlichkeitsentfaltung], Art. 13 Abs. 2 BV [Recht auf informationelle Selbstbestimmung], Art. 28 ff. ZGB [allgemeines Persönlichkeitsrecht]; Art. 30 HAÜ i.V.m. Art. 268c ZGB für Adoptivkinder, Art. 119 Abs. 2 lit. g BV i.V.m. Art. 27 FMedG für durch Samenspende gezeugte Kinder, s.a. Art. 6 GUMG, Art. 81 Abs. 1 ZStV); sowie
- der persönlichkeitsrechtliche Anspruch des Vaters auf Kenntnis seiner (Nicht-) Vaterschaft (vgl. Art. 28 ff., Art. 298 Abs. 2 ZGB)
von zentraler Bedeutung.
Die Bestimmungen Art. 252 – Art. 269c ZGB regeln die Entstehung des Kindesverhältnisses zwischen einem Kind und bestimmten Eltern. Der Gesetzgeber unterscheidet dabei zwischen dem Kindesverhältnis zur Geburtsmutter und jenem zum zweiten Elternteil. Mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gingen terminologische Änderungen einher: Wird vom «zweiten Elternteil» gesprochen, so ist regelmässig vom rechtlichen Kindesvater die Rede. Wie im folgenden Kapitel aufgezeigt wird, kann es sich dabei jedoch auch um die Ehefrau der Geburtsmutter handeln.
Stand des Kapitels: Juli 2023