5. Es fällt auf, dass der Regierungsrat in einer Weise argumentiert, als ob es sich im vorliegenden Fall um eines der üblichen Pflegeverhältnisse handeln würde, welches zum Wohl des Kindes nach Massgabe von Art. 310 Abs. 3 ZGB aufrechterhalten werden muss. Der Regierungsrat stützt denn auch seinen Entscheid auf die Art. 308 und 310 ZGB, insbesondere - wie vor allem der Vernehmlassung zu entnehmen ist - auf Art. 310 Abs. 3 ZGB.
Nun steht aber fest, dass die Beschwerdeführerin seit der Geburt ihres Kindes mit diesem zusammen bei den Grosseltern väterlicherseits, den heutigen Pflegeeltern, Aufnahme gefunden hat und während dreier Jahre mit dem Kind zusammen dort gelebt und das Kind auch selbst betreut hat. Nicht unter der Obhut seiner Mutter hat das Kind lediglich während der Dauer des Umplazierungs- bzw. Beschwerdeverfahrens
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gelebt; in dieser Zeit blieb der Knabe bei der Familie H., während seine Mutter zu ihren Eltern nach X. zog. Der hier zu beurteilende Fall unterscheidet sich demnach wesentlich von Pflegeverhältnissen, wie sie von Art. 310 Abs. 1 und 3 ZGB ins Auge gefasst werden (HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 2. Auflage Bern 1983, S. 155; SCHNYDER, Kindesrecht, Supplement zu Tuor/Schnyder, ZGB, Zürich 1977, S. 57 f.).
Angesichts dieser von normalen Pflegeverhältnissen völlig verschiedenen Ausgangslage erscheint der Vorwurf der Beschwerdeführerin berechtigt, der Regierungsrat habe ihrer Erziehungsfähigkeit keine entscheidende Bedeutung zugemessen und damit Art. 310 ZGB offensichtlich falsch und demnach willkürlich angewendet. Art. 310 Abs. 3 ZGB will verhindern, dass ein Kind, welches gestützt auf Art. 310 Abs. 1 ZGB oder vom Inhaber der elterlichen Gewalt freiwillig bei Dritten in Pflege gegeben worden ist, dort längere Zeit gelebt hat und am Pflegeort stark verwurzelt ist, vom Pflegeplatz unversehens weggenommen wird, so dass seine weitere seelisch-geistige und körperliche Entwicklung ernsthaft gefährdet wird. Eltern, die sich trotz der Fremdplazierung um den Aufbau und die Pflege einer persönlichen Beziehung zu ihrem Kind bemüht haben, brauchen indessen nicht zu befürchten, dass Art. 310 Abs. 3 ZGB mit Erfolg gegen ihre ernsthafte Absicht, das Kind eines Tages wieder selbst zu betreuen und zu erziehen, angerufen werden könnte (vgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesverhältnis) vom 5. Juni 1974, BBl 1974 II, S. 83; HEGNAUER, a.a.O., S. 155). Die Beschwerdeführerin bringt deshalb grundsätzlich zutreffend vor, dass die elterliche Gewalt und die daraus fliessenden Rechte und Pflichten sowie die elterliche Gemeinschaft mit dem Kind den Kindesschutzmassnahmen vorgehen. Letztere sind - im wohlverstandenen Kindesinteresse - nur anzuordnen, wenn die Eltern in Pflege und Erziehung versagen oder wenn die alleinstehende Mutter aus Gründen, die in ihrer Persönlichkeit oder in den äusseren Verhältnissen liegen, ihren Elternpflichten nicht nachzukommen vermag. Liegen keine solchen den Entzug der elterlichen Obhut rechtfertigenden Umstände vor, so könnte der Mutter die Mitnahme ihres Kindes an ihren neuen Wohnort nur verwehrt werden, wenn konkret dargetan wäre, dass wegen der Verwurzelung des Kindes am bisherigen Wohnort und wegen der körperlichen oder seelischen Konstitution des Kindes eine schwerwiegende Gefährdung seiner Entwicklung
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zu befürchten wäre. Wenngleich die Interessen der Eltern hinter das Wohl des Kindes zurückzutreten haben, sollen vorhandene lebendige Bande zwischen Mutter und Kind nicht ohne Not zerrissen oder auch nur gefährdet werden (vgl. HEGNAUER, Kommentar zu Art. 284 aZGB, N. 8, 8a).
Bei der Umplazierung eines Kleinkindes, um die es im vorliegenden Fall geht, ist deshalb einerseits das Kindeswohl wichtig, ja vorrangig, und steht deshalb die Frage im Vordergrund, ob seine Entwicklung eine Rücknahme durch die leibliche Mutter, in deren Obhut es bis zu deren Wegzug vom Heim der Pflegefamilie stand, ohne ernsthafte Gefährdung erträgt. Neben dem Kindeswohl ist aber auch dem natürlichen Recht der leiblichen Mutter, ihr Kind weiterhin selbst zu betreuen, zu pflegen und zu erziehen, Rechnung zu tragen. Entgegen der Auffassung des Regierungsrates ist es deshalb entscheidend, ob die Beziehungen der Beschwerdeführerin zu ihrem Kind auch seit der Trennung ungetrübt und genügend intensiv geblieben sind. Sodann ist es wesentlich, ob die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Verantwortungsbewusstseins und ihrer erzieherischen Fähigkeiten wie auch aufgrund der äusseren Umstände, in denen sie lebt, die Pflichten als Mutter zu erfüllen vermag.
Ohne die Interessen des Kindes einerseits und jene der Mutter anderseits gegeneinander abzuwägen, hat der Regierungsrat des Kantons Luzern den angefochtenen Entscheid ausschliesslich unter dem Blickwinkel des Kindeswohls gefällt. Dabei hat er Ausführungen des kinderpsychiatrischen Experten, die recht allgemein, zum Teil höchst vage gehalten sind und für irgendwelche Kinder im Alter von M. E. Geltung beanspruchen könnten, zu seiner eigenen Argumentation gemacht, indessen aber die besondere Ausgangslage - Zusammensein von Mutter und Kind während dreier Jahre im Haushalt der Grosseltern väterlicherseits, Wegfall der mütterlichen Obhut erst seit dem Wegzug der Beschwerdeführerin von B. - ausser acht gelassen. Dadurch sowie durch das Ignorieren der wichtigen Frage der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Mutter und der Verhältnisse, in denen sie lebt, hat der Regierungsrat einen Entscheid getroffen, der vor Art. 4 BV nicht standhält. Zu Recht hatte die Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren die Einholung eines Amtsberichtes des Gemeinderats von X. und des von ihr bezeichneten Behördenmitgliedes, einen Augenschein oder andere Abklärungen verlangt, wodurch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Mutter zur
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Pflege und Erziehung ihres Kindes hätten festgestellt werden können. Wenn der Regierungsrat die Beweisangebote der Beschwerdeführerin allein mit der Begründung abgelehnt hat, nicht die leibliche Mutter, sondern die Pflegemutter gelte für den Knaben sozialpsychisch als Mutter und es komme deshalb nicht entscheidend auf die Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin an, so wird er damit der Besonderheit des Falles und der in der Tat nicht einfachen Abgrenzung zwischen dem Kindeswohl einerseits und den berechtigten Ansprüchen der leiblichen Mutter, welche die elterliche Gewalt ausübt, nicht gerecht. Der Beschwerdeführerin muss deshalb auch unter dem bloss beschränkten Gesichtswinkel der Willkürbeschwerde zugestanden werden, dass über ihre Erziehungsfähigkeit, die Beziehungen zwischen ihr und dem Kind sowie über die Stabilität ihrer Lebensverhältnisse tatsächliche Feststellungen getroffen werden.