5.1.5 Gewaltenteilung & Checks and Balances

Eine Vielzahl von "Gewaltenteilungen"

Wie oben (3.1.3) dargestellt wurde, entstand die US-amerikanische Idee der Checks and Ba-lances weitgehend auf Grundlage von Montesquieus "Esprit des Lois". Die Founding Fathers setzten somit ein von Gleichgewicht und Hemmung bestimmtes System der Gewaltenteilung um.

Es ist zu betonen, dass es sich dabei um ein System der Gewaltenteilung geht – die Gewalten-teilung existiert nicht. Lockes Auffassung der Idee der Gewaltenteilung, welche als Funda-ment für Montesquieus Variante diente, war bezeichnenderweise selbst unter Eindruck histo-risch gewachsener Institutionen entstanden. Ein Überblick über verschiedene Länder zeigt, dass je nach Regierungssystem verschiedene Formen der Gewaltenteilung umgesetzt worden sind:

Das britische Staatsrecht geht aufgrund der Idee der Parlamentssouveränität von einer theore-tischen Allmacht der Legislative aus. Als Konsequenz des parlamentarischen Regierungssys-tems stellt allerding faktisch der Premierminister, also die Regierung, das Zentrum der politi-schen Macht dar. Dazu kam in jüngster Vergangenheit eine Stärkung der Gerichte aufgrund der Europäisierung des Rechts.

Sowohl das amerikanische wie auch das deutsche Modell der Gewaltenteilung zeichnen sich aus durch die starke Stellung der Justiz aufgrund einer ausgeprägten Verfassungsgerichtsbar-keit.

Wie sehr der politische Kontext die jeweilige Umsetzung der Gewaltenteilung bestimmt, zeigt das Beispiel Frankreichs: Während der III. und IV. Republik (1871–1940 bzw. 1947–1958) bestimmte eine institutionelle Parlamentsherrschaft die politische Landschaft. Die aktuelle Verfassung der V. Republik hingegen stärkt die Regierung massiv und setzt auf die Dominanz des Präsidenten.

In der Schweiz, schliesslich, sollte sich nicht – wie in Frankreich und den USA – Mon-tesqiueus Gleichgewicht der Gewalten durchsetzen. Wie in der Folge aufgezeigt wird, war es eher der radikal demokratische Ansatz Jean-Jacques Rousseaus, der am einflussreichsten war.

Gewaltenteilung nach J.-J. Rousseau

Gemäss Rousseau hat jede freie Tat zwei Ursachen: Wille und Macht. Der Staatskörper habe genau die gleichen Beweggründe, und zwar in Form der gesetzgebenden Gewalt und der Exe-kutive (Du Contrat Social, III. Buch, I. Kapitel). Weil es für Rousseau unmöglich ist, den Wil-len des souveränen Volks (volonté général) zu vertreten, muss das Volk selbst als Gesetzgeber walten: "Jedes vom Volk nicht persönlich ratifizierte Gesetz ist nichtig; es ist kein Gesetz" (ebd., III. Buch, XV. Kapitel). Dass das Volk nicht selbst regieren kann, sieht Rousseau aller-dings ein. Er propagiert eine schwache Regierung, dessen Mitglieder er als Beamte des Volkes bezeichnet. Das Volk kann dabei diese Regierung jederzeit wieder abberufen (ebd., III. Buch, XVI. Kapitel).

Bei Rousseau steht also die Volkssouveränität klar im Vordergrund. Das Volk vereinigt ge-wissermassen alle Staatsgewalt in sich. Denn auch wenn die Regierungstätigkeit delegiert wird, so hat das Volk nach wie vor eine grosse Kontrolle über seine Regierungsbeamten.

Alte Eidgenossenschaft

Die Kantone der alten Eidgenossenschaft kannten keine Staatstheorie als gemeinsame Basis. Eine dogmatische Gewaltenteilung existierte daher nicht. Vielmehr könnte man von einer pragmatische Machtaufteilung sprechen.

In den Landorten waren die Landsgemeinden (allerdings in "oligarchisierter" Form) für alle "wichtigen" Akte zuständig. Sekundäre Geschäfte erledigte der Landrat als untergeordnetes Organ.

Gleichermassen oligarchisch oblag in den Stadtorten den patrizischen bzw. zünftischen Räten die umfassende Staatsgewalt.

Helvetik

Eine erste aufklärerische Staatstheorie hielt Einzug mit der helvetischen Verfassung von 1798. Die grundlegenden Prinzipien dieser Verfassungsordnung sind die Volkssouveränität und die Repräsentation (Art. 2). Die Legislative als Repräsentation des Volks setzt sich zusammen aus dem Grossen Rat und dem Senat (Art. 50). Die Exekutive ist ein fünfköpfiges Direktorium, dem der Vollzug "übertragen" ist (Art. 71). Die Exekutive ist zuständig für die Sicherheit des Staates, aber nur "gemäss den Gesetzen" (Art. 76). Eine Delegation der Ge-setzgebungsbefugnis ist ausdrücklich verboten (Art. 68). Umgekehrt ist es den Mitgliedern der Legislative untersagt, Teil der Exekutive bzw. der Judikative zu sein (Art. 67). Die personelle Gewaltentrennung wird demnach konsequent verfolgt. Allerdings besteht keine Gleichordnung der Gewalten. Mit der zweiten helvetischen Verfassung wird ausdrücklich festgelegt, dass die vollziehende Gewalt rechtlich abhängig ist von der gesetzgebenden. Inso-fern näherte sich die Helvetik dem von Rousseau geforderten Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive an. Im Verhältnis Legislative – Judikative blieb man allerdings bei einer Gleichordnung.

Mediation

Unter der Mediationsakte war die Tagsatzung keine gesetzgebende Volksvertretung, sondern eine völkerrechtliche Abgeordnetenversammlung, der Landammann amtete als vollziehendes Organ im Auftrag des Staatenbundes. Eine Gewaltenteilung als solche fällt im Staatenbund ausser Betracht.

In den Kantonen selber gab es grundsätzlich drei verschiedene Varianten der Staatsorganisati-on:

In den fünf neuen Kantonen (Aargau, St. Gallen, Tessin, Thurgau und Waadt) wurde der Grosse Rat mit der "Ausübung der Souveränität" betraut, deren "Substanz" beim Volk lag. Der Grosse Rat wählte die Exekutive (Kleiner Rat), dessen Mitglieder ihren Sitz im Gesetz-gebungsorgan behalten durften. Die Exekutive war der Legislative gegenüber wiederum rechtlich verantwortlich. Während keine personelle Gewaltentrennung vollzogen wurde zwi-schen Legislative und Exekutive, war die Gerichtsbarkeit weitestgehend unabhängig.

In den Städtekantonen zeigte sich ein ähnliches Bild: Der Grosse Rat übte jeweils die Souve-ränität aus und ernannte aus eigenen Reihen den Kleinen Rat, der wiederum Rechenschaft schuldete. Aus der Mitte des Kleinen Rats wurden jeweils zwei Standeshäupter ernannt (Bür-germeister und Schulthess). Aufgrund der bedeutungsvollen Stellung dieser Standeshäupter stellte sich ein faktisches Übergewicht der Exekutive ein. Da das nicht amtierende Standes-haupt Vorsitz hatte im Appellationsgericht und bei Kapitalverbrechen vier weitere Kleinrats-mitglieder beigezogen wurden, herrschte in den Städtekantonen keine saubere personelle Ge-waltentrennung. Verwaltungsstreitigkeiten waren generell auch Sache des Kleinen Rates.

Die Kantonsverfassungen der Landgemeindekantone führten die Volksversammlung als Sou-verän auf. Folglich verfügte über sie einen Grossteil der Staatsgewalt. Der Grosse Rat (oder: Landrat) hatte jeweils ein Vorschlagsrecht bezüglich Gesetzgebung sowie einige Verwal-tungsbefugnisse. Die Kantonsverfassungen regelten die Behördenorganisation darüber hinaus nicht vertieft. Mehrfach wurde der Hinweis festgelegt, die vorrevolutionären Räte träten un-verändert mit ihren ehemaligen Zuständigkeiten wieder in Kraft. Auch in den Landsgemein-dekantonen waren die Gerichte ursprünglich personell mit dem Kleinen Rat verbunden. Mit der Zeit kam es aber zur Errichtung von immer mehr besonderen, unabhängigen Gerichten.

Restauration

War die Idee der personellen Trennung der Gewalten in der Helvetik grundsätzlich akzeptiert, so hatte sie in der Vermittlungszeit bereits eine Schwächung erfahren. In der Restauration, so scheint es, wurde die Gewaltenteilung gänzlich vernachlässigt.

Die in der Restauration Einzug haltende oligarchische Konzentration der Macht war nur zu erhalten, in dem die Regierung Mitwirkungsbefugnis in allen Staatsgeschäften erhielt. Damit schwand die Bedeutung der Grossen Räte massiv, während die Kleinen Räte zunehmend mit Gesetzgebung beschäftigt waren. In vielen Kantonen hatte zudem der Kleine Rat das alleinige Recht zur Gesetzesinitiative. Da eines der Standeshäupter jeweils den Vorsitz hatte sowohl im Kleinen Rat wie im Grossen Rat, wurde die Geschäftsführung der (de iure-) Legislative von der Regierung abhängig.

Die Rechtspflege wurde zudem zunehmend politisiert. Fast alle Restaurationsverfassungen kannten die Vermengung der Judikative mit den beiden anderen Gewalten, und zwar sowohl in funktioneller als auch in personeller Hinsicht. So legte etwa die Walliser Verfassung von 1815 fest: "Gerichts- und Verwaltungsverrichtungen sind einander nicht unverträglich" (Art. 54).

Regeneration

In der Regeneration wurde die Gewaltenteilung zu einem zentralen Programmpunkt, dessen Umsetzung ein grosser verdienst des Liberalismus war.

Benjamin Constant, Führer der liberalen Bewegung in Paris, entwarf etwa ein neues Modell der Gewaltenteilung: Er ergänzte die drei klassischen Gewalten mit dem pouvoir municipale (vertikale Gewaltenteilung und dem pouvoir neutre (Monarch) für den Kontext einer konstitu-tionellen Monarchie.

Dass gerade Constants Modell einer Gewaltenteilung, gedacht für eine konstitutionellen Mo-narchie, in der Schweiz keinen grossen Einfluss fand, ist offensichtlich. Vielmehr war es Ludwig Snell (siehe VGN, S. 278), dessen Begriff der Gewaltenteilung wegweisend sein würde.

Snell formulierte seine Auffassung in einem 1831 anonym erschienenen Verfassungsentwurf. Er propagiert eine strikte Trennung der drei klassischen Gewalten, und zwar personell wie auch funktional. In Anlehnung an Rousseau umschreibt er das Verhältnis zwischen den Ge-walten wie folgt: Der Grosse Rat als Legislative ist die höchste der drei Staatsgewalten, da das Gesetz Ausdruck der volonté général ist. Dabei muss der Kleine Rat an der Gesetzgebung beratend und mit Initiativrecht beteiligt sein, ist allerdings dem Grossen Rat gegenüber re-chenschaftspflichtig. Die Gerichtsbarkeit ist ebenfalls dem Grossen Rat gegenüber rechen-schaftspflichtig und verantwortlich, um Rechtsverweigerung und Willkür der Justiz vorzu-beugen.

Bei Snell liegt also in der Tradition Rousseaus, welche die Verwirklichung des Gemeinwohls als Aufgabe der Volksvertretung festlegt, wobei die übrigen Gewalten lediglich Hilfsorgane zu diesem Zweck sind. Die Legislative wird so auch nicht nach US-Muster von den anderen Gewalten ausbalanciert; die Kontrolle erfolgt durch das Volk selbst mittels periodischer Wah-len, Öffentlichkeit der Verhandlungen sowie Presse-, Petitions- und Versammlungsfreiheit.

Rund 40 Kantonsverfassungen entstehen in der Regenerationszeit. Die meisten davon bauen weitgehend auf dem Vorschlag Snells auf, gleichen sich daher auch oft sehr. Für alle diese Verfassungen war die Volkssouveränität zentral. Folgerichtig war der vom Volk gewählte Grosse Rat jeweils höchstes Organ; die Aufsicht des Grossen Rats über die Regierung war dabei wesentliches Attribut der kantonalen Parlamente.

BV 1848 bis heute

Auch für Überlegungen zur Revision des Bundesvertrags bildeten Snells Ausführungen das Fundament. Der Entwurf Pellegrino Rossis von 1832 etwa bezeichnete die Tagsatzung als "oberste Bundesbehörde" (Art. 68), und auch der erneute Versuch eines Entwurfs der Tagsat-zung von 1833 nannte den Bundesrat "oberste vollziehende und, in Abwesenheit der Tagsat-zung, die leitende Behörde" (Art. 63). Die Betonung des Übergewichts der Volksvertretung in den Entwürfen knüpft demnach nahtlos an Snells demokratische Überlegungen an.

In der Ausarbeitung der BV 1848 schlussendlich, griff die Tagsatzungskommission natürlich auf die "Vorarbeiten" von 1832/33 zurück. Das Verhältnis zwischen den Gewalten wurde unverändert übernommen. So lautete der Art. 60: "Die oberste Gewalt des Bundes wird durch die Bundesversammlung ausgeübt […]". In den folgenden Jahren erstarkte allerdings in der Staatsrechtslehre eine Strömung, welche in Anlehnung an das US-System die Vorrangstellung der Bundesversammlung reduzieren wollte. Bis zum Erlass der BV 1874 vermag sich diese Ansicht noch nicht durchzusetzen. In der Folge aber obsiegte sowohl in der Lehre als auch in der Politik die amerikanische Ansicht, dass im Bund drei gleichgeordnete, je in ihrem Kompe-tenzbereich oberste Gewalten bestehen.

Darüber hinaus gewann ab der Jahrhundertwende eine Ansicht Aufwind, welche man als "rechtsfunktionale" Gewaltenteilungskonzeption bezeichnen könnte. Sie setzt die Zuständig-keiten der drei Gewalten gleich mit den Funktionen der Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung, welche strikt zu trennen sind. Dies hat u.a. folgende Konsequenzen:

  • Regierungsverordnungen, welche als Rechtssetzung durch die Exekutive anzusehen sind, gelten als Ausnahme vom Gewaltenteilungsgrundsatz. Dogmatisch wird dieses Problem allerdings umschifft mit der Institution der Delegation.
  • Aufgrund der strikten Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung werden alle Akte, die nicht generell-abstrakt erfolgen (können), dem Parlament als Verwaltungsaufgaben abgesprochen. Ein beträchtlicher Umfang an Aufgaben verlagert sich so in Richtung Exekutive. Auch schränkt dies den Anwendungsbereich des allgemeinen Bundesbeschlusses ein, was letztlich das Referendumsrecht beschränkt.

Auch das Vollmachtenregime der Kriegsjahre verstärkte zusehends die Gewichtsverlagerung auf die Regierung.

Man könnte also meinen, dass Rousseaus demokratisches Moment faktisch zusehends aus der schweizerischen Gewaltenteilungskonzeption verschwindet. Auf Papier zumindest zeigt sich das Verhältnis der Gewalten fast unverändert zur Bestimmung der BV 1848. Gemäss der BV 1999 übt nämlich die Bundesversammlung nach wie vor die "oberste Gewalt" im Bund aus (Art. 148). Allerdings tut sie dies (schon seit der BV 1874) unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen. Die Ausweitung der Volksrechte, welche im Zuge der BV-Revision von 1874 erfolgte, hob demnach das demokratische Element hervor, und zwar stärker, als dies noch in der BV 1848 oder Snells Verfassungsentwurf der Fall war. Snell nämlich legte das Schwergewicht auf die Volksvertretung, während es heute – radikal demokratisch – beim Volk selbst liegt.

Rousseau hätte dies sicher gefallen.