2.2.1 H.L.A. Hart

Zunächst erläutert Hart das Problem der Rechtsgeltung, wie er sagt: der „Existenz“ von Normen. Bei einfachem Recht oder Rechtsakten, wie dem Erlass einer Satzung durch eine Gemeinde oder dem Abschluss eines Mietvertrags meint er, sei diese Frage vergleichsweise unproblematisch zu beantworten, die Behauptung, dass diese „existieren“, bedeute dann:

„Die Normen gehören zu jener Klasse von Normen, die durch die in den fundamentalen Normen der betreffenden Rechtsordnung enthaltenen Kriterien als gültige Normen dieser Rechtsordnung gekennzeichnet sind. Solche fundamentalen Normen sind etwa die Normen des Bonner Grundgesetzes, die bestimmen, daß Beschlüsse des Parlamentes — in bestimmten Bereichen und unter bestimmten Bedingungen — gültiges Recht sind.“ (Hart 2002, S. 50)

Ähnlich wie Kelsen geht Hart also zunächst davon aus, dass die Geltung derartiger Rechtsakte durch ihre Übereinstimmung mit den Geboten oder Erlaubnissen einer höherrangigem Norm begründet wird. Spätestens auf der hierarchisch höchsten Ebene, den „fundamentalen“ Normen etwa in einer Verfassung, kompliziere sich die Lage jedoch:

„Wenn man jedoch von diesen fundamentalen Normen, die die Gesetzgebungskompetenz der Legislative erzeugen und umschreiben, sagt, daß sie existieren, so hat das eine andere Bedeutung. »Existieren« kann hier nicht — wie bei untergeordneten Normen des Systems — bedeuten: »die Gültigkeitskriterien des Systems erfüllen«. In diesem Fall muss das Prädikat »Existenz« vielmehr auf die tatsachliche Praxis jener sozialen Gruppe Bezug nehmen, deren Rechtsordnung zur Debatte steht.“ (Hart 2002, S. 50f.)

Die Vorschläge früherer, positivistischer Rechtstheoretiker wie Austin oder Kelsen hält Hart zur Lösung dieses Problems für ebenso ungeeignet wie diejenigen von Verbindungstheoretikern. Selbst in einer denkbar einfachen Rechtsordnung, in der ein Monarch bereits durch die Äusserung seines Willens Rechtspflichten erzeugen kann, sei die die tatsächliche Praxis der Rechtsgeltung, der Rechtsbefolgung zu komplex, um sie auf eine einfache Formel zu bringen: Man könne sie nicht lediglich mit dem allgemeinen Gehorsam gegenüber einem Souverän erklären, oder, wie Kelsen mit seiner „Grundnorm“, die Basis der Rechtsordnung als eine fundamentale „Hypothese“ charakterisieren, welche die Rechtswirklichkeit nicht mehr berücksichtige. Als ebenso unrichtig betrachtet es Hart aber, wenn Verbindungstheoretiker als Grundlage jeder Rechtsordnung die allgemeine Anerkennung einer moralischen Gehorsamspflicht betrachten, also meinen, dass Recht notwendig nur als solches gelten könne, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung es als moralisch gültig oder legitim betrachte.

Für seine Überzeugung von den Defiziten dieser Positionen führt Hart eine Reihe von Argumenten an:

„Um solchen rechtstheoretischen Irrtümern zu entgehen, muss man zunächst einmal sehen, warum die Begriffe »Gewohnheit« und »Gehorsam« nicht ausreichen, um jene Situation zu beschreiben, die vorliegt, wenn wir davon sprechen, daß im Wege der Gesetzgebung Rechtspflichten erzeugt werden. Wenn Mitglieder einer Gruppe bloß gewohnheitsmäßig einem Individuum X gehorchen, das sie mit einem Übel bedroht und in der Lage ist, im Falle des Ungehorsams diese Drohung wahrzumachen, so lässt sich das zwar durch die Formulierung, sie seien zu den betreffenden Handlungen genötigt oder gezwungen, zum Ausdruck bringen. Aber man kann nicht sagen, daß sie eine entsprechende Verpflichtung haben oder anerkennen. Damit wir sagen können, daß sie eine Verpflichtung haben oder anerkennen, das zutun, was X sagt, müssen sie mehr als eine gewohnheitsmäßige Gehorsamshaltung gegenüber X einnehmen. Hinzukommen muss mindestens, daß sie
1. die Worte von X im großen und ganzen als Maßstab richtigen Verhaltens akzeptieren, so daß Abweichungen von diesem Maßstab (anders als bloße Abweichungen von einer gängigen sozialen Verhaltensweise, wie etwa der Sitte, Tee oder Kaffee zu trinken) einen Anlass für Kritik bilden, und daß sie
2. die Worte von X im allgemeinen als Grund für ihr eigenes Handeln, für ihre Verhaltenserwartungen gegenüber anderen sowie für die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen bei Abweichungen anführen.
Die Frage, wie viele Mitglieder einer sozialen Gruppe (einfache Bürger oder Beamte) diese Dinge wie häufig und wie lange tun müssen, damit die genannten Bedingungen als erfüllt gelten können, lässt sich nicht präzise beantworten — so wenig, wie sich genau sagen lässt, wie alt jemand sein muss, um mittleren Alters zu sein. Aber in jeder sozialen Gruppe, in der Rechtspflichten im Wege der Gesetzgebung erzeugt werden und in der die Wendungen »Ich habe eine Rechtspflicht, so zu handeln« und »Er hat eine Rechtspflicht, so zu handeln« die derzeit übliche Bedeutung besitzen, muss es eine soziale Praxis geben, die wenigstens so komplex ist, wie ich es beschrieben habe, und nicht bloß eine Gehorsamsgewohnheit der Gruppenmitglieder. Jeder, der sagt, er oder ein anderer sei zu einer bestimmten Handlung rechtlich verpflichtet, bringt damit zum Ausdruck, daß seine eigene Einstellung gegenüber den Worten des Gesetzgebers von der oben beschriebenen Form ist; denn diese Verpflichtungsurteile dienen dazu, Schlussfolgerungen aus Rechtsnormen zu ziehen, die der Urteilende als für sich verbindlich anerkennt. Jemand, der eine solche Verbindlichkeit ganz und gar ablehnt, könnte sich natürlich trotzdem klarmachen, daß eine Missachtung der Normen ihm Schaden bringen würde. Doch die natürliche Ausdrucksweise für diese Einstellung wäre nicht »Ich bin verpflichtet, x zu tun«, sondern »Ich bin genötigt, x zu tun« oder »Ich werde unter diesem System Schaden nehmen, wenn ich nicht x tue«.“ (Hart 2002, S. 51ff.)

Eine Auffassung, die nur auf die „gewohnheitsmässige“ oder „regelmässige“ Rechtsbefolgung abstellt, kann das „Wesen einer Rechtsordnung“ indem diese Aspekte der Akzeptanz einer Rechtsordnung „im Grossen und Ganzen“ und der Verhaltensmotivation nicht berücksichtigt, nach Harts Meinung also nicht erfassen. Das habe Kelsen richtig gesehen; er habe aber unrecht, indem er mit seiner Grundnorm eine eigene Konzeption der fundamentalen Norm als eine „Hypothese“ oder eines „Axioms“ dessen Gültigkeit vorausgesetzt“ sei oder „postuliert“ werde, eine Reihe ganz unpassender, quasi-mathematischer Ausdrücke ins Spiel bringe.

Man müsse sich, um die Frage der Gültigkeit (oder Geltung) des Rechts zu klären, statt dessen auf die in einer sozialen Gruppe tatsächlich akzeptierten Normen beziehen:

„Wenn das Verhalten einer Gruppe von Menschen in der beschriebenen Weise zum Ausdruck bringt, daß die Gruppe die Worte eines Gesetzgebers als Verhaltensstandard akzeptiert, dann akzeptiert sie damit die Norm, daß man dem Gesetzgeber gehorchen muss; die Norm, daß sein Wort Gesetz ist, ist für sie existent. Die Norm des Grundgesetzes etwa, daß Beschlüsse des Parlamentes Gesetzeskraft haben, existiert in dieser Weise. Wenn man festgestellt hat, daß derartige Normen in der tatsächlichen Praxis einer Gruppe existieren, dann ist es absurd, so zu sprechen, als seien diese Normen gültig oder ungültig oder als müsse man ihre Gültigkeit voraussetzen oder postulieren. Ebenso gut könnten wir die Gültigkeit der derzeit herrschenden Sitte, beim Betreten eines Hauses den Hut abzunehmen, postulieren oder voraussetzen. Natürlich kann man eine Reihe von Fragen solchen Normen gegenüber aufwerfen; man kann etwa fragen, ob es gut oder wünschenswert ist, daß sie von der betreffenden Gruppe akzeptiert werden oder daß ihre Beachtung den Charakter einer moralischen Verpflichtung annimmt. Doch es stiftet nur Verwirrung, diese Fragen unter dem Gesichtspunkt der »Gültigkeit« zu erörtern.“ (Hart 2002, S. 54.)

Gegen die „dritte Fehlkonzeption“, die Auffassung, die allgemeine Anerkennung einer moralischen Pflicht zur Rechtsbefolgung, sei eine „logisch notwendige Voraussetzung“ für die Existenz einer Rechtsordnung, argumentiert Hart wie folgt:

„Es dürfte zwar zutreffen, daß keine auf Sanktionen gestützte Rechtsordnung Bestand haben könnte, wenn nicht die Mehrheit der Individuen die Rechtsnormen freiwillig befolgen würde. Und es mag sogar der Fall sein, daß die Verhältnisse ziemlich instabil wären, wenn nicht die meisten Individuen von einer moralischen Gehorsamspflicht bei sich und anderen ausgingen. Dies reicht jedoch nicht aus, um die behauptete logische Beziehung zwischen Sätzen wie »In England gibt es eine Rechtsordnung« und »In England wird allgemein anerkannt, daß man moralisch zum Rechtsgehorsam verpflichtet ist« zu demonstrieren — mag auch der erste dieser Sätze mit Sicherheit und der zweite mit Wahrscheinlichkeit wahr sein. Ebenso unerheblich für den eigentlichen Streitpunkt ist die unbezweifelbare Tatsache, daß die Rechtsentwickiung durch Gesetzgeber und Gerichte immer in hohem Maße durch die moralischen Überzeugungen der Bevölkerung beeinflußt wurde und beeinflußt werden wird. Diese Tatsache beweist nicht, daß die Existenz einer Rechtsordnung undenkbar ist, falls sie nicht auf die Überzeugung gegründet werden kann, daß eine moralische Verpflichtung zum Rechtsgehorsam besteht. Die Behauptung, daß es irgendwo eine Rechtsordnung gibt, setzt zwar voraus, daß eine fundamentale Norm von der Art »Beschlüsse des Parlamentes sind gültiges Recht« in dem betreffenden Land de facto allgemein akzeptiert wird (wobei diese Norm unter Umständen sehr kompliziert sein kann). Und die allgemeine Akzeptanz einer solchen Norm besteht in mehr als gewohnheitsmäßigem Gehorsam, denn sie schließt jene darüber hinausgehende Einstellung zum Recht ein, die ich oben beschrieben habe. Aber sowohl jener allgemeine Gehorsam als auch diese zusätzliche Einstellung können ebenso gut durch Furcht, Trägheit, Traditionsbewusstsein oder langfristige Interessenabwägung motiviert sein wie durch die Anerkennung einer moralischen Verpflichtung zum Rechtsgehorsam. Als Antwort auf die Frage, ob eine Rechtsordnung vorliegt, genügt der Nachweis, daß eine allgemeine Praxis existiert, die von der beschriebenen, komplexen Art ist. Die Frage nach den Motiven dieser Praxis ist zwar nicht unwichtig, steht aber auf einem anderen Blatt.“ (Hart 2002, S. 54f.)

Als nächstes, meint Hart, müsse man noch jenes Element erörtern, das die meisten Leute als das hervorstechendste Merkmal rechtlicher Verpflichtung ansehen würden: die bedeutsame Verbindung zwischen rechtlicher Verpflichtung und Nötigung oder Zwang.

„Wenn wir die Verpflichtung haben, x zu tun, so sind wir in einem gewissen Sinne gehalten, x zu tun; und wenn wir gehalten sind, x zu tun, dann sind wir in einem gewissen Sinne gezwungen, x zu tun. Um diese Begriffe im einzelnen untersuchen zu können, müssen wir drei Dinge unterscheiden:
1. den physischen Zwang zu einer Handlung;
2. die Nötigung zu einer Handlung;
3. die Verpflichtung zu einer Handlung.“ (Hart 2002, S. 56)

Die Hauptschwierigkeit in diesem Zusammenhang bestehe darin, die Beziehung zwischen dem dritten und den beiden übrigen Begriffen zu beschreiben, ohne dabei in Extreme zu verfallen. Austin, ein früher rechtspositivistischer Theoretiker, der die Existenz einer Rechtspflicht auf das Bestehen eines sanktionsbewehrten Befehls des Souveräns zurückführte, habe diese Beziehung in verhängnisvoller Weise überbewertet:

„Er erkannte zwar, daß jemand, der ins Gefängnis geschleppt und damit in einem gewissen Sinne zum Betreten des Gefängnisses gezwungen wird, deshalb noch keiner entsprechenden Verpflichtung oder Pflicht unterliegt. Doch wenngleich er diese fehlerhafte Gleichsetzung vermied, so definierte er dennoch den Verpflichtungsbegriff durch die Sanktion oder das Übel, das jemand, der einen Befehl erteilt (der einem anderen gegenüber den Wunsch äußert, daß er etwas tun solle), für den Fall des Ungehorsams androht. Nach Austin ist man dann zu etwas verpflichtet, wenn man einem derartig angedrohten Übel ausgesetzt ist, das heißt wenn der Eintritt des Übels als wahrscheinlich anzusehen ist.“ (Hart 2002, S. 56)

Der augenfälligste Fehler dieser Definition bestehe darin, dass sie auch dann erfüllt sei, wenn ein Räuber mit gezückter Pistole von jemandem die Herausgabe seiner Brieftasche verlange:

„In diesem Falle würden wir normalerweise jedoch keineswegs sagen »Er hatte die Verpflichtung, seine Brieftasche herauszugeben«. Wir würden allerdings sagen — und das mag Austin zu seinem Fehler verführt haben — »Er war genötigt, seine Brieftasche herauszugeben«. Auf den ersten Blick scheint Austin also zwar eine ziemlich gute Analyse des Sachverhaltes der Nötigung, aber eine sehr dürftige des Sachverhaltes der Verpflichtung zu geben.“ (Hart 2002, S. 56)

Auch wenn man die Unterschiede von Austins Konzeption einer rechtlichen Verpflichtung anerkenne – diese unterscheide sich vom simplen Modell des Räubers immerhin in einer Reihe von Punkten: die Befehle entstammten dem staatlichen Souverän, dem der überwiegende Teil der Bevölkerung Gehorsam leiste; diese seien abstrakt und für jedermann verbindlich und Austin betone, dass auch das Bewusstsein, die Furcht vor drohendem Übel zur Begründung einer Verpflichtung gehöre – benennt Hart eine Reihe grundlegender Fehler, die er an Austins Auffassung sieht. Um diesen lokalisieren zu können, müsse man Austins These zunächst auf den Punkt bringen:

„Austin will ein Normensystem nur dann als Rechtsordnung gelten lassen, wenn die Normen für den Fall des Ungehorsams eine Übelzufügung vorsehen.“ (Hart 2002, S. 57)

Aber selbst wenn man einräume, dass zwischen dem Begriff der »Rechtsordnung« und dem Begriff der »Sanktion« im Sinne einer Übels- oder Schadenszufügung eine analytische Verknüpfung besteht, führe eine Definition des Verpflichtungsbegriffs, die auf die Wahrscheinlichkeit und das Bewüstsein der angedrohten Übelszufügung abstellt, zu Absurditäten:

„Betrachten wir zunächst das psychologische Element — das Bewusstsein der angedrohten Übelszufügung —‚ das Austin selbst nur zögernd in seine Analyse einbezieht. Wenn man sagt, ein Dieb unterliege der rechtlichen Verpflichtung, die Brieftasche, auf die er es abgesehen hat, nicht zu stehlen, dann ist das keine psychologische Aussage. Auch wenn das angedrohte Übel in seiner Motivation keine Rolle spielt, so bleibt seine Verpflichtung davon unberührt. Wenn er jedoch aus Angst von seinem Diebstahl Abstand nimmt, so könnte man in einem gewissen, wenn auch ungewöhnlichen Sinne sagen, daß er genötigt war, die Brieftasche nicht zu nehmen.“ (Hart 2002, S. 58)

Zum zweiten sei die Behauptung, dass jemand in einer bestimmten Situation eine bestimmte Verpflichtung hat, ganz unabhängig davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Übelszufügung eingeschätzt werden müsse‚ obwohl diese Wahrscheinlichkeit sehr wichtig sein könne, wenn man beurteilen wolle, ob jemand genötigt war, das zu tun, was er in einer bestimmten Situation getan hat.

„Es ist nicht widersprüchlich und nicht einmal ungewöhnlich, wenn man sagt: »Es ist deine Pflicht, dich zum Militärdienst zu melden; aber da du in Monte Carlo lebst und wir mit Monte Carlo keinen Auslieferungsvertrag haben, hast du nicht das geringeste zu befürchten«.“ (Hart 2002, S. 58f.)

Der grundsätzlichste Einwand gegenüber der Austinschen Analyse rechtlicher Verpflichtung als sanktionsbewehrtem Befehl des Souveräns bestehe jedoch darin, dass die unpassenden Begriffe des Bewusstseins und der Wahrscheinlichkeit der Übelszufügung deshalb irreführend seien, weil sie ein zentrales Element jeder Rechtsordnung verschleierten: nämlich die „Existenz von Normen“, die Hart selbst in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt:

„Ohne die Konzeption eines auf einer komplexen sozialen Praxis beruhenden Normensystems läßt sich der Unterschied zwischen einer Nötigung und einer Verpflichtung zum Handeln nicht verstehen. …
Weder der Gewohnheits- noch der Befehlsbegriff (mit seinem Rekurs auf die angedrohte Übelszufügung) reichen hierzu aus. Der Zwang, um den es hier geht, kann in der Tat — wie im Fall einer innerstaatlichen Rechtsordnung — die Form einer Übelszufügung annehmen. Aber dort, wo dies der Fall ist, muss die Übelszufügung selbst wiederum von den Normen des Systems vorgesehen sein. Wie offenkundig auch die faktische Macht eines Gesetzgebers, einem bestimmten Verhalten mit Sanktionen entgegenzutreten, sein mag: Seine Androhung und sogar seine Anwendung von Gewalt zur Erzwingung von Gehorsam würde keine Pflichten begründen, wenn die Sanktionen nicht durch die entsprechenden rechtlichen Normierungen vorgesehen würden. Allenfalls wären die Menschen genötigt, den Androhungen des Gesetzgebers zu folgen. Daher ist das wesentliche Element rechtlicher Zwangsgewalt nicht die Tatsache (die Wahrscheinlichkeit der das Bewusstsein), daß dem Ungehorsam ein Übel folgt, sondern die Existenz eines Systems von Normen, das bestimmten Personen die Autorität verleiht, gewisse Verhaltensweisen zu verbieten und Übertretungen der Verbote mit den dem System eigenen Mitteln des Zwanges, der Repression oder der Strafe zu begegnen. Dieser letzte Gedanke muss in gewisser Weise eingeschränkt, wenn auch nicht preisgegeben werden. In jeder innerstaatlichen Rechtsordnung gibt es Normen, für deren Bruch keine Sanktionen vorgesehen sind. Obschon es möglicherweise ohne logischen Zirkel oder infiniten Regress eine selbstbezügliche Norm geben könnte, wonach alle Beamten für alle Normverletzungen — einschließlich der Verletzung dieser Norm selbst — Sanktionen verhängen müssten, wird doch gewöhnlich von den staatlichen Beamten die Befolgung gewisser Rechtsnormen auch ohne die Androhung einer Sanktion erwartet. So verhält es sich zum Beispiel mit der in er Verfassung der USA verankerten Pflicht des amerikanischen Präsidenten, über die ordnungsgemäße Ausführung er Gesetze zu wachen. Dennoch zögern wir auch in diesen Fällen nicht, von einer Amtspflicht oder rechtlichen Verpflichtung zu sprechen. Sie zeigen, daß selbst innerhalb einer Rechtsordnung die komplexen Merkmale, die den Standardfall der Verpflichtung kennzeichnen, auseinanderfallen können. Diese Tatsache kommt in der juristischen Terminologie, etwa der des römischen Rechts zum Ausdruck, wo von »unvollkommenen Pflichten« die Rede ist. Und sie nährt den Zweifel daran, ob Völkerrecht »echtes« Recht ist oder besser als ein Zweig der Moral betrachtet werden sollte.“ (Hart 2002, S. 59f.)

Eine Auffassung, welche ihr Augenmerk nur oder hauptsächlich auf Bestimmungen richte, welche die Sanktion von Rechtsverstössen forderten, verkenne die „typische Funktionsweise“ vieler, etwa strafrechtlicher, Normen. Strafrechtliche Bestimmungen zur Sanktion rechtswidrigen Verhaltens durch Gerichte griffen nur ein, wenn die Rechtsordnung ihren primären Zweck verfehle, nämlich Verhaltenssteuerung und soziale Kontrolle:

„Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Techniken sozialer Kontrolle. Für das Strafrecht ist es charakteristisch, daß durch die Normierung von Straftatbeständen bestimmte Verhaltensweisen verboten werden. Diese Normen bezwecken eine Verhaltenssteuerung entweder aller Individuen oder einzelner sozialer Gruppen in einer Gesellschaft. Man erwartet von diesen, daß sie die Strafbestimmungen ohne Hilfe oder Einmischung staatlicher Stellen verstehen, auf sich anwenden und auch befolgen. Erst wenn das Recht diese Funktion nicht erfüllt, wenn also ein Rechtsbruch vorliegt, ist es Aufgabe der Staatsorgane, diesen Rechtsbruch festzustellen und die angedrohte Sanktion zu verhängen. Das Spezifische dieser Technik sozialer Kontrolle im Vergleich zu einem persönlichen Befehl, wie ihn zum Beispiel ein Verkehrspolizist einem Autofahrer erteilt, besteht darin, daß es den Mitgliedern der Gesellschaft überlassen bleibt, die Strafbestimmungen selbst zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. In diesem Sinne wenden sie die Normen des Strafrechts auf sich selbst an. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß mit der Sanktionsdrohung der Norm ein zusätzliches Motiv zum Rechtsgehorsam gegeben ist.

Um ein zutreffendes Bild von der Wirkungsweise des Rechts zu gewinnen, ist es selbstverständlich wichtig, zu begreifen, wie die Gerichte verfahren, wenn es darum geht, die angedrohten Sanktionen zu verhängen. Aber das sollte uns nicht zu dem Glauben verleiten, daß wir uns auf das Verständnis dessen, was vor Gericht geschieht, beschränken können. Die wesentlichen Funktionen des Rechts als eines Mittels sozialer Kontrolle werden nicht in Zivil- oder Strafprozessen sichtbar. Gerichtsverfahren sind wichtige, aber nur hilfsweise Vorkehrungen, falls das System versagt. Die Hauptfunktionen des Rechts ergeben sich vielmehr aus dem vielfältigen Gebrauch, den man von Rechtsnormen macht, um das soziale Leben auch ohne Gerichte zu kontrollieren, zu lenken und zu planen.“ (Hart 2002, S. 61ff.)

Als Beispiel für sein Argument führt Hart eine theoretische Uminterpretation der Regeln eines Fussballspiels an:

Nehmen wir an, ein Theoretiker, der sich mit den Regeln des Fußballspiels befasst, würde behaupten, in diesen Regeln einen gemeinsamen Kern gefunden zu haben, der durch ihre sprachliche Fassung sowie durch die landläufige Meinung, daß einige von ihnen sich primär an die Spieler, andere primär an die Schiedsrichter und wieder andere an beide Personengruppen wenden, verdeckt werde. Statt dessen vertritt er die Meinung, alle Regeln seien in Wirklichkeit Anweisungen an die Schiedsrichter, unter bestimmten Voraussetzungen in einer bestimmten Weise zu reagieren. Die Regel, daß ein Tor erzielt worden ist, wenn der Ball die Torlinie in vollem Umfang überschritten hat, oder die Regeln, die das Foulspiel verbieten, seien in Wahrheit komplexe Anweisungen an die Schiedsrichter, ein Tor zu pfeifen beziehungsweise einen Freistoß zu verhängen.

Das Gegenargument gegen eine solche Umdeutung liege nahe:

„Die den Regeln dadurch aufgezwungene Gemeinsamkeit verschleiert die Art und Weise, in der die Regeln wirken und in der die Spieler sich in ihrem Verhalten nach ihnen richten. Die Funktion von Spielregeln in einer zwar konkurrenzbestimmten, aber dennoch auf Kooperation angewiesenen sozialen Institution wird so nur verdunkelt.“ (Hart 2002, S. 64)

Zudem würden durch eine Theorie, welche Recht nur in seiner Funktion der Auferlegung eines Zwangsbefehls konzipiere, alle diejenigen Vorschriften, die rechtliche Befugnisse verleihen und die Art ihrer Ausübung regeln, auf diese eine Modell des Zwangsbefehls reduziert:

„Wenn wir das gesamte Recht nur vom Standpunkt der Personen aus betrachten, denen Pflichten auferlegt werden, und wenn wir alle anderen Aspekte des Rechts nur als mehr oder weniger komplizierte Bedingungen für die Auferlegung von Pflichten ansehen, dann vernachlässigen wir Gesichtspunkte, die für die Gesellschaft mindestens ebenso wertvoll und für das Recht ebenso charakteristisch sind wie das Moment der Pflicht. Normen, welche die Veränderung des privaten Rechtsstatus ermöglichen, können nur vom Standpunkt der Personen aus verstanden werden, die selbst die ihnen eingeräumten rechtlichen Befugnisse ausüben. Sie erweisen sich dann als ein gegenüber kontrollierendem Zwang zusätzliches Rechtselement des sozialen Lebens. Das ist so, weil der Besitz dieser rechtlichen Befugnisse den Bürger, der sonst nichts weiter als ein Träger von Pflichten wäre, zu einem eigenen Gesetzgeber werden lässt. Die betreffenden Normen versetzen ihn in die Lage, rechtsgestaltend tätig zu werden. Das geschieht im Rahmen von Verträgen, Ermächtigungen, Testamenten und anderen Rechtsinstituten, aus denen subjektive Rechte und Pflichten hervorgehen. Warum sollten Normen, die in dieser charakteristischen Weise benutzt werden und so bedeutende und spezifische Vorteile mit sich bringen, nicht von solchen Normen unterschieden werden, die Pflichten auferlegen (mögen auch manche Pflichten nur dadurch entstehen, daß die genannten Befugnisse ausgeübt werden)? Im sozialen Leben denkt und spricht man über Normen, die Befugnisse verleihen, anders als über Normen, die Pflichten auferlegen. Man macht einen unterschiedlichen Gebrauch von beiden und schätzt sie aus unterschiedlichen Gründen. Könnte es für ihren unterschiedlichen Charakter noch einen anderen Nachweis geben? Ähnlich verschleiernd wirkt es sich aus, wenn man im staatlichen Bereich die Funktion von Normen, die gesetzgeberische oder richterliche Befugnisse verleihen und regeln, auf die Festlegung von Bedingungen, unter denen Pflichten entstehen, reduzieren will. Wer solche Befugnisse ausübt, um Gesetze oder Verfügungen zu erlassen, benutzt diese Normen im Rahmen einer zielgerichteten Handlungsweise, die sich von der Erfüllung einer Pflicht oder der Unterwerfung unter einen Zwang grundlegend unterscheidet.“ (Hart 2002, S. 64f.)

Nachdem Hart also seinen eigenen Entwurf zur Erklärung der „Existenz einer Rechtsordnung“ zunächst in kritischer Auseinandersetzung mit älteren rechtspositivistischen Theorien erläutert hat, wendet er sich nun verbindungstheoretischen Konzepten zu. Zunächst macht er deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die Bedeutung der Moral für Entstehung und Praxis des Rechts herunter zu spielen:

„Die herrschende Sozialmoral beeinflusst in vielfältiger Weise das Recht eines jeden modernen Staates. Übergreifende moralische Ideale spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Diese Einflüsse gehen entweder zu einem bestimmten Zeitpunkt im Wege der Gesetzgebung offen in das Recht ein, oder sie setzen sich allmählich und stillschweigend mittels der Rechtsprechung durch. In einigen Rechtsordnungen wie etwa der amerikanischen nehmen die obersten Kriterien der Rechtsgeltung explizit auf Gerechtigkeitsprinzipien oder moralische Wertvorstellungen Bezug. In anderen Rechtsordnungen, wie zum Beispiel in England, gibt es keine derartigen formellen Beschränkungen der Gesetzgebungskompetenz. Das schließt nicht aus, daß auch hier die Legislative gewissenhaft bemüht ist, den Forderungen der Gerechtigkeit und der Moral zu genügen. Es gibt eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten, wie das Recht zum Ausdruck bestimmter Moralvorstellungen werden kann. Diese Möglichkeiten wurden bislang noch nicht hinreichend untersucht. So sind manche Bestimmungen rechtlich leer, indem sie ausdrücklich eine Konkretisierung durch inhaltliche Moralprinzipien vorsehen. Die Vertragsfreiheit kann etwa durch Bezugnahme auf die »guten Sitten» oder »Treu und Glauben» eingeschränkt werden; oder man kann den Umfang straf- und zivilrechtlicher Verantwortlichkeit den herrschenden moralischen Ansichten anpassen. Kein Positivist wird diese Tatsachen bestreiten. Und ebenso wenig wird er leugnen, daß die Stabilität von Rechtsordnungen teilweise auf derartigen Übereinstimmungen mit der herrschenden Moral beruht. Wenn dies mit der These einer notwendigen Verbindung von Recht und Moral gemeint sein soll, so ist nichts dagegen einzuwenden.
Gesetze müssen ausgelegt werden, damit man sie auf konkrete Fälle anwenden kann. Wenn die Mythen, die die wahre Natur der Rechtsanwendung verschleiern, erst einmal durch eine realistische Analyse zerstört worden sind, ist es offenkundig, daß die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe einen breiten Raum für kreative Tätigkeit lässt. Mancher würde hier sogar von »gesetzgeberischer» Tätigkeit sprechen. Richter stehen bei der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen und bei der Interpretation von Präzedenzfällen nicht vor der Alternative zwischen blinder, willkürlicher Dezision einerseits und mechanischer Deduktion aus starren Regeln andererseits. Häufig werden sie sich von der Annahme leiten lassen, daß die von ihnen auszulegenden Normen einen vernünftigen Zweck verfolgen, das heißt, daß sie nicht auf die Herbeiführung von Unrecht oder auf die Verletzung etablierter Moralprinzipien abzielen.
Juristische Entscheidungen verlangen oft —insbesondere bei Grundfragen desVerfassungsrechts— eine Wahl zwischen konkurrierenden moralischen Wertvorstellungen und nicht die bloße Anwendung nur eines dominierenden Moralprinzips. Es wäre töricht anzunehmen, daß die Moral überall dort eine klare Antwort bereithält, wo die Bedeutung des Rechts umstritten ist. Auch hier vermag der Richter eine Entscheidung zu treffen, die weder mechanisch deduzierbar noch willkürlich ist. Gerade in diesem Bereich können typische richterliche Tugenden zur Entfaltung kommen. Sie sind so sehr auf richterliches Entscheiden ausgerichtet, daß manche es für problematisch halten, in diesem Zusammenhang von »gesetzgeberischer» Tätigkeit zu sprechen. Diese Tugenden sind: Unparteilichkeit und Neutralität bei der Prüfung der Entscheidungsalternativen; Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen; das Bemühen, ein annehmbares allgemeines Prinzip als vernünftige Entscheidungsgrundlage zu entwickeln. Da stets verschiedene Prinzipien in Frage kommen, kann zweifelsohne nicht bewiesen werden, daß eine bestimmte Entscheidung die einzig richtige ist. Aber diese Entscheidung kann dadurch annehmbar gemacht werden, daß man sie als das begründete Ergebnis einer auf Information und Unparteilichkeit beruhenden Wahl ausweist. In alledem begegnet uns jenes Moment des Abwägens und Ausgleichens, das charakteristisch ist für das Bemühen, konkurrierenden Interessen gerecht zu werden.
Kaum jemand streitet die Bedeutung dieser Faktoren ab, die man angesichts ihrer Funktion, Entscheidungen annehmbar zu machen, ruhig als »moralisch» bezeichnen kann. Sie kommen häufig in irgendeiner Form in den informellen und wechselnden Auslegungsregeln zum Ausdruck, die in den meisten Rechtsordnungen eine Rolle spielen.“ (Hart 2002, S. 65ff.)

Die Annahme einer notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral rechtfertige dies aber nicht – man dürfe nicht vergessen, dass diese Regeln der Rechtsfindung in der Praxis fast so oft gebrochen wie befolgt worden seien.

„Manchmal besagt die Behauptung, wonach es eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral gibt, nichts weiter, als daß eine gute Rechtsordnung in gewissen Belangen den Forderungen von Gerechtigkeit und Moral genügen muss. Manche mögen diese Behauptung als trivial ansehen, aber sie ist keine Tautologie. In der kritischen Beurteilung des Rechts kann es durchaus Meinungsverschiedenheiten darüber geben, welches die einschlägigen moralischen Maßstäbe sind, und in welchen Punkten das Recht ihnen genügen muss. Meint man die herrschende Moral der Gruppe, für die das Rechtssystem gilt — und zwar auch dann, wenn diese Moral auf Aberglauben beruht oder wenn sie Sklaven oder unterdrückten Klassen Schutz und Sicherheit vorenthält? Oder meint man aufgeklärte Verhaltensnormen, das heißt Verhaltensnormen, die auf rationalen Tatsachenannahmen beruhen und allen menschlichen Wesen ein gleiches Recht auf Berücksichtigung und Achtung zuerkennen? Zweifellos wird die Forderung, daß eine Rechtsordnung allen Menschen in ihrem Geltungsbereich ein Minimum an Schutz und Freiheit gewähren muss, heutzutage allgemein geteilt und als kritischer Maßstab für die Beurteilung von Rechtsordnungen anerkannt. Selbst wo man in der Praxis diesem Ideal nicht entspricht, legt man gewöhnlich doch ein Lippenbekenntnis zu ihm ab. Vielleicht lässt sich sogar mit philosophischen Mitteln zeigen, daß ein Moralsystem, das nicht von einem Recht aller Menschen auf Gleichbehandlung ausgeht, innerlich widersprüchlich ist oder doch auf dogmatischen oder irrationalen Annahmen beruht. So gesehen wäre die aufgeklärte Moral, die dieses Recht achtet, nicht bloß eine unter vielen möglichen Moralen, sondern die wahre Moral. Diese Thesen können hier nicht im einzelnen untersucht werden. Aber selbst wenn man ihnen zustimmt, würde das nichts daran ändern und sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß so manche staatliche Rechtsordnung (mit der für sie charakteristischen Struktur von primären und sekundären Normen) trotz einer Missachtung dieser Prinzipien der Gerechtigkeit lange Bestand gehabt hat.“ (Hart 2002, S. 68f.)

Trotz dieser, für rechtspositivistische Theorien charakteristischen, begrifflichen Trennung zwischen Recht und Moral, mein Hart in einer berühmt gewordenen Formulierung, enthalte Recht notwendigerweise einen „minimalen Gehalt an Naturrecht“:

„In einem gewissen Sinne kann man die Unterscheidung zwischen einer guten Rechtsordnung, die in bestimmter Hinsicht Moral und Gerechtigkeit entspricht, und einer Rechtsordnung, die dieses nicht tut, für irreführend halten. Denn ein Minimum an Gerechtigkeit wird notwendigerweise immer dann verwirklicht, wenn menschliches Verhalten durch allgemeine Normen kontrolliert wird, die öffentlich verkündet und von den Gerichten angewendet werden. Die Idee der Gerechtigkeit in ihrer einfachsten Form (Gerechtigkeit bei der Rechtsanwendung) verlangt lediglich, den Gedanken ernst zu nehmen, daß es ein und dieselben allgemeinen Regeln sind, die unbeeinflusst von Vorurteilen, Interessen und Launen auf eine Vielzahl verschiedener Personen angewendet werden sollen. Es ist diese Unparteilichkeit, welche die Verfahrensbestimmungen, die englischen und amerikanischen Juristen als Prinzipien der »natürlichen Gerechtigkeit« vertraut sind, sicherstellen sollen. Die bloße Vorstellung, eine allgemeine Rechtsnorm anzuwenden, enthält also zumindest den Keim der Gerechtigkeit. Dem widerspricht nicht, daß man auch solche Normen in gerechter Weise anwenden kann, die äußerst verwerflich sind.
Man kann diese Minimalform der Gerechtigkeit durchaus als «natürliche Gerechtigkeit« bezeichnen. Weitere ihrer Aspekte ergeben sich aus einer Untersuchung der gemeinsamen Merkmale solcher Methoden sozialer Kontrolle (sei es der Normen eines Spiels oder der Normen des Rechts), die ihre Kontrollfunktion in erster Linie dadurch erfüllen, daß sie sich mit allgemeinen Verhaltensanforderungen an bestimmte Personengruppen wenden, von denen dann erwartet wird, daß sie die Normen ohne weitere Anleitung verstehen und befolgen. Wenn diese Art der sozialen Kontrolle wirksam sein soll, müssen die Normen bestimmten Bedingungen genügen: Sie müssen verständlich und für die Mehrheit befolgbar sein; außerdem dürfen sie im allgemeinen nicht rückwirkend gelten, obwohl hier Ausnahmen möglich sind. Das bedeutet, daß diejenigen, die schließlich für einen Normverstoß bestraft werden, im großen und ganzen die Fähigkeit und die Chance gehabt haben müssen, den Normen zu gehorchen. Es ist klar, daß diese allgemeinen Merkmale einer durch Normen ausgeübten Kontrolle eng mit jenen Erfordernissen der Gerechtigkeit verwandt sind, die von Juristen als Prinzipien der Legalität betrachtet werden. In der Tat hat ein Kritiker des Rechtspositivismus behauptet, daß diese Merkmale auf eine notwendige Verbindung von Recht und Moral hinauslaufen, und hier von einer «inneren Moralität des Rechts« gesprochen. Wenn das mit der These von der notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral gemeint sein soll, können wir auch insoweit dieser These zustimmen. Leider ist diese «innere Moralität des Rechts« mit einem hohen Maß an Ungerechtigkeit vereinbar.“ (Hart 2002, S. 69f.)

Diese Formen einer Verbindung von Recht und Moral hätten nach Harts Einschätzung „nur wenige“ der positivistischen Rechtstheoretiker, so unvorsichtig sie ihren allgemeinen Standpunkt einer radikalen Trennung von Recht und Moral auch formuliert hätten (so etwa Kelsen mit seiner Aussage: „Rechtsnormen können jeden beliebigen Inhalt haben“, s.o., Wiederholungsebene), bestritten. Das wichtigste Anliegen dieser Denker sei es vielmehr gewesen, eine „durchsichtigere und ehrlichere“ Formulierung der theoretischen und moralischen Probleme zu finden, die sich aus der Existenz moralisch verwerflicher, jedoch formal ordnungsgemäss erlassener und damit „gültiger“ Gesetze ergäben.

„Die Rechtspositivisten waren der Ansicht, daß sowohl der Rechtstheoretiker als auch jener unglückliche Beamte oder Bürger, der diese Gesetze anzuwenden oder zu befolgen hat, nur verwirrt würde, wenn man ihn aufforderte, diesen Gesetzen das Prädikat »Recht« oder »gültig« zu verweigern. Sie meinten, daß es einfachere und ehrlichere Mittel gäbe, um sich mit diesen Problemen auseinander zusetzen — Mittel, die alle intellektuellen und moralischen Gesichtspunkte von Relevanz weit besser zur Geltung bringen. So sollten wir sagen: »Dies ist zwar Recht; aber es ist zu verwerflich, um angewendet oder befolgt zu werden«.“ (Hart 2002, S. 71)

Der entgegengesetzte Standpunkt, der eine notwendige Verbindung von Recht und Gerechtigkeit annimmt, meint Hart, erscheine dann als attraktiv, wenn nach einer Revolution oder einer grösseren politischen Umwälzung die Gerichte zu jenen moralischen Vergehen Stellung nehmen müssten, die von Beamten unter dem früheren Regime in gesetzlicher Form begangen worden seien. Hart nimmt in diesem Abschnitt Stellung zu Inhalt und historischem Kontext der „Radbruchschen Formel“ (s.o. Wiederholungsebene).

„Die Bestrafung solcher Vergehen mag als sozial erwünscht empfunden werden; und doch kann es sich als schwierig, als seinerseits moralisch verwerflich oder einfach als unmöglich erweisen, durch offen rückwirkende Gesetzgebung ein Verhalten zu kriminalisieren, das nach den Gesetzen des früheren Regimes erlaubt oder gar geboten war. Unter diesen Umständen scheint es sich anzubieten, die im Begriff «Recht« (vergleiche auch »ius«, »diritto« und »droit») latent enthaltenen moralischen und naturrechtlichen Implikationen zu nutzen. So könnte man behaupten, dass Gesetze, die Ungerechtigkeiten anordnen oder gestatten, nicht als gültig anerkannt werden oder keinen Rechtscharakter haben sollen, selbst wenn die betreffende Rechtsordnung ihrer Legislative in dieser Richtung keine Kompetenzbeschränkung auferlegt. In dieser Weise wurden in Deutschland nach dem letzten Krieg Naturrechtsargumente wiederbelebt, und zwar als Reaktion auf die akuten Probleme, die eine Hinterlassenschaft der verbrecherischen Naziherrschaft und ihres Untergangs bildeten. Sollten beispielsweise Denunzianten, die aus eigensüchtigen Motiven andere wegen eines Verstoßes gegen ungeheuerliche Nazigesetze ins Gefängnis gebracht hatten, bestraft werden? Konnten die Gerichte im Nachkriegsdeutschland sie deshalb verurteilen, weil die Vorschriften, deren Übertretung sie angezeigt hatten, naturrechtswidrig und daher nichtig waren, so daß die Inhaftierung der Opfer wegen eines Verstoßes gegen diese Vorschriften in Wahrheit rechtswidrig und die Beihilfe dazu selbst eine Straftat war?
So einfach auch die Streitfrage zwischen denjenigen, die moralisch verwerflichen Gesetzen den Rechtscharakter absprechen, und denjenigen, die das nicht tun, aussieht, so sehr scheinen sich doch die Disputanten über den allgemeinen Charakter des Problems häufig im unklaren zu sein. Es trifft zwar zu, daß es sich hier um alternative Formulierungen einer moralischen Entscheidung handelt —der Entscheidung, verwerfliche Gesetze nicht anzuwenden, sie nicht zu befolgen sowie anderen nicht zu gestatten, sich unter Berufung auf sie zu verteidigen. Und doch ist das Problem nicht eigentlich sprachlicher Natur. Keine der beiden Seiten in diesem Streit wäre zufrieden, wenn man ihr sagen würde: »Ja, Sie haben recht, auf englisch (oder auf deutsch) bringt man eine derartige Entscheidung genauso zum Ausdruck, wie Sie es getan haben«. Der Positivist könnte zwar unter Bezugnahme auf den Sprachgebrauch zeigen, daß die Behauptung, eine Rechtsnorm sei zu verwerflich, um Gehorsam zu verdienen, nicht widersprüchlich ist, und daß aus der Aussage, eine Norm sei moralisch verwerflich, nicht folgt, daß sie keine gültige Rechtsnorm ist. Doch würden die Gegner des Positivismus das Problem damit kaum als erledigt betrachten.“ (Hart 2002, S. 71ff.)

Es sei damit klar, dass diese Fragen nicht angemessen behandeln zu behandeln seien, wenn man darin nur eine Angelegenheit des korrekten Sprachgebrauchs sehe. Denn in Wirklichkeit gehe es um die Bewertung der Vor- und Nachteile eines weiteren oder engeren Begriffs zur Erfassung von Normen, die zu einem bestimmten, im Grossen und Ganzen wirksamen sozialen Normensystem gehören. Um sich aus gutem Grund für eine der beiden Konzeptionen entscheiden zu können, müsse man herausfinden, welche sich für theoretische Untersuchungen und moralische Überlegungen als fruchtbarer oder klärender erweise:

„Der weitere dieser beiden konkurrierenden Rechtsbegriffe umfasst den engeren. Machen wir uns den weiteren Begriff zu eigen, so führt uns das im theoretischen Bereich dazu, alle jene Normen als Recht zu qualifizieren, die nach den formalen Kriterien eines Systems von primären und sekundären Normen als gültig anzusehen sind. Das gilt selbst für solche Normen, die gegen die faktisch herrschende Moral der betreffenden Gesellschaft oder gegen die von uns als aufgeklärt oder wahr betrachteten moralischen Grundsätze verstoßen. Wenn wir dagegen von dem engeren Rechtsbegriff ausgehen, schließen wir solche moralisch anfechtbaren Normen aus dem Bereich des Rechts aus.
Es dürfte klar sein, daß mit dem engeren Begriff für die theoretische oder wissenschaftliche Analyse des sozialen Phänomens »Recht« nichts gewonnen wird: Er führt zum Ausschluss von Normen, die sämtliche anderen komplexen Merkmale des Rechts aufweisen. Die Untersuchung dieser Normen durch eine andere Disziplin als die Rechtswissenschaft könnte nur Verwirrung stiften, und weder in rechts-geschichtlichen noch in anderen juristischen Studien hält man ein solches Vorgehen für zweckmäßig. Der weitere Rechtsbegriff erlaubt uns dagegen, in seinem Rahmen auch moralisch verwerfliche Gesetze im einzelnen zu analysieren und die Reaktion der Gesellschaft auf sie zu untersuchen. Unsere Bemühungen um das Verständnis von Entwicklung und Möglichkeiten sozialer Kontrolle durch ein System primärer und sekundärer Normen würden also durch den Gebrauch des engeren Rechtsbegriffs in verwirrender Weise aufgespalten. Eine vollständige Analyse dieser Technik sozialer Kontrolle umfasst auch die Analyse ihres Missbrauchs.
Wie steht es nun mit dem praktischen Nutzen des engeren Rechtsbegriffs im Kontext moralischer Überlegungen? Inwiefern ist es angesichts moralisch verwerflicher Vorschriften besser, sie überhaupt nicht als Recht anzusehen, als der Meinung zu sein, daß sie zwar zum positiven Recht gehören, aber zu verwerflich sind, um angewendet oder befolgt zu werden? Würde das die Menschen klarsichtiger machen oder ihre Bereitschaft fördern, das Gesetz zu missachten, falls die Moral es fordert? Würden jene Probleme, wie sie das Naziregime hinterlassen hat, leichter lösbar werden?
Ohne Zweifel haben Ideen ihren Einfluss. Aber dadurch, daß man die Bürger zum Gebrauch eines engeren Begriffs rechtlicher Gültigkeit erzieht, in dem kein Platz für gültiges, aber moralisch verwerfliches Recht ist, wird man den Widerstand gegen das Böse angesichts der Drohungen organisierter Macht wohl kaum stärken können. Und man wird auch nicht zu einer klareren Erkenntnis dessen beitragen, was moralisch auf dem Spiele steht, wenn Rechtsgehorsam gefordert wird. Solange sich Menschen zur Beherrschung ihrer Mitmenschen auf die Loyalität einer ausreichenden Minderheit stützen können, werden sie sich zur Erreichung ihrer Ziele unter anderem auch der verschiedenen Formen des Rechts bedienen. Schlechte Menschen werden schlechte Gesetze erlassen und mit Hilfe anderer Menschen durchsetzen. Der Bürger kann nur dann gegenüber staatlichem Machtmissbrauch feinfühlig werden, wenn man ihm den Sinn dafür bewahrt, daß die Feststellung, etwas sei gültiges Recht, nicht ohne weiteres eine Gehorsamspflicht zur Folge hat und daß die Ansprüche einer staatlichen Ordnung, mag sie auch von einer noch so starken Aura von Majestät oder Autorität umgeben sein, letztlich doch einer moralischen Prüfung unterliegen müssen. Diese Einsicht, daß es jenseits der staatlichen Ordnung etwas gibt, auf das das Individuum zurückgreifen muss, um das Problem des Rechtsgehorsams für sich zu lösen, kann man sicherlich eher in denen wach halten, die an den Gedanken gewöhnt sind, daß Rechtsnormen ungerecht sein können, als in denen, die glauben, daß Unrecht niemals den Status von Recht erlangen kann.
Ein vielleicht noch stärkeres Argument für die Bevorzugung des weiteren Rechtsbegriffs, der es uns erlaubt, auch verwerfliche Normen als Rechtsnormen zu bezeichnen, liegt darin, daß man die vielfältigen moralischen Probleme, die im Zusammenhang mit verwerflichen Rechtsnormen auftreten können, in unzulässiger Weise vereinfacht, wenn man diesen Normen die rechtliche Anerkennung vorenthält. Altere Autoren wie Bentham und Austin legten auf die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, unter anderem deshalb so großen Wert, weil sie glaubten, ohne diese Unterscheidung würden die Menschen dazu neigen, voreilig und ohne Rücksicht auf mögliche Schäden für die Gesellschaft bestimmte Gesetze für ungültig und nicht befolgbar zu erklären. Doch abgesehen von dieser Gefahr der Anarchie, die Bentham und Austin möglicherweise überschätzt haben, handelt es sich hier auch noch in anderer Hinsicht um eine unzulässige Vereinfachung. Wenn wir unser Augenmerk nur auf das Gehorsamsproblem richten, welches für den einzelnen gegenüber den Anforderungen verwerflicher Vorschriften entsteht, dann könnte es als gleichgültig erscheinen, ob der Betreffende glaubt, es mit einer gültigen »Rechts«norm zu tun zu haben oder nicht, sofern er nur ihre moralische Verwerflichkeit erkannt hat und sich entsprechend verhält. Aber außer dem Problem des Gehorsams (Soll ich diese schlechte Handlung ausführen?) besteht noch Sokrates Problem der Unterwerfung: Soll ich die Strafe für meinen Ungehorsam auf mich nehmen oder soll ich fliehen? Und es gibt auch noch das Problem, mit dem die deutschen Nachkriegsgerichte konfrontiert waren: Sollen wir jene bestrafen, deren Übeltaten zur Zeit der Begehung durch verwerfliche Gesetze gestattet waren? — Aus diesen Fragen ergeben sich ganz unterschiedliche Probleme der Moral und der Gerechtigkeit, die es unabhängig voneinander zu untersuchen gilt. Diese Probleme werden nicht dadurch gelöst, daß man sich ein für allemal weigert, schlechte Gesetze unter welchem Gesichtspunkt auch immer als gültig anzuerkennen. Auf so grobe Weise lassen sich heikle und vielschichtige moralische Probleme nicht bewältigen. Ein Rechtsbegriff, der es erlaubt, die Ungültigkeit des Rechts von seiner Unsittlichkeit zu unterscheiden, versetzt uns in die Lage, die Komplexität und Vielfalt dieser unterschiedlichen Fragen zu erkennen, wohingegen ein enger Rechtsbegriff, der verwerflichen Normen die rechtliche Gültigkeit versagt, uns diesen Problemen gegenüber leicht blind macht. Es ist zwar richtig, daß die deutschen Denunzianten, die aus eigennützigen Motiven andere einer Bestrafung aufgrund verabscheuungswürdiger Gesetze auslieferten, gegen die Moral verstießen. Aber die Moral verlangt möglicherweise auch, daß der Staat nur jene Übeltaten bestraft, die bereits zur Tatzeit mit Strafe bedroht waren. Diese Forderung ist enthalten in dem Grundsatz «nulla poena sine lege«.
Wenn man von diesem Grundsatz Ausnahmen machen muss, ohne ein noch größeres Übel als die Preisgabe des Grundsatzes selbst zu vermeiden, so ist es unbedingt notwendig, die anstehenden Probleme deutlich herauszuarbeiten. Man sollte einen Fall rückwirkender Bestrafung nicht so hinstellen, daß der Anschein entsteht, es handele sich um einen Normalfall der Bestrafung einer zur Tatzeit rechtswidrigen Handlung. Für die einfache positivistische Lehre, daß moralisch verwerfliche Normen trotz ihrer Verwerflichkeit gültiges Recht sein können, spricht zumindest folgendes: Wenn unter extremen Umständen eine Wahl zwischen verschiedenen Übeln getroffen werden muss, so lässt sich dies mit den Mitteln der positivistischen Lehre jedenfalls nicht verschleiern.“ (Hart 2002, S. 73ff.)
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