2.2.1 H.L.A. Hart
Zunächst erläutert Hart das Problem der Rechtsgeltung, wie er sagt: der „Existenz“ von Normen. Bei einfachem Recht oder Rechtsakten, wie dem Erlass einer Satzung durch eine Gemeinde oder dem Abschluss eines Mietvertrags meint er, sei diese Frage vergleichsweise unproblematisch zu beantworten, die Behauptung, dass diese „existieren“, bedeute dann:
Ähnlich wie Kelsen geht Hart also zunächst davon aus, dass die Geltung derartiger Rechtsakte durch ihre Übereinstimmung mit den Geboten oder Erlaubnissen einer höherrangigem Norm begründet wird. Spätestens auf der hierarchisch höchsten Ebene, den „fundamentalen“ Normen etwa in einer Verfassung, kompliziere sich die Lage jedoch:
Die Vorschläge früherer, positivistischer Rechtstheoretiker wie Austin oder Kelsen hält Hart zur Lösung dieses Problems für ebenso ungeeignet wie diejenigen von Verbindungstheoretikern. Selbst in einer denkbar einfachen Rechtsordnung, in der ein Monarch bereits durch die Äusserung seines Willens Rechtspflichten erzeugen kann, sei die die tatsächliche Praxis der Rechtsgeltung, der Rechtsbefolgung zu komplex, um sie auf eine einfache Formel zu bringen: Man könne sie nicht lediglich mit dem allgemeinen Gehorsam gegenüber einem Souverän erklären, oder, wie Kelsen mit seiner „Grundnorm“, die Basis der Rechtsordnung als eine fundamentale „Hypothese“ charakterisieren, welche die Rechtswirklichkeit nicht mehr berücksichtige. Als ebenso unrichtig betrachtet es Hart aber, wenn Verbindungstheoretiker als Grundlage jeder Rechtsordnung die allgemeine Anerkennung einer moralischen Gehorsamspflicht betrachten, also meinen, dass Recht notwendig nur als solches gelten könne, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung es als moralisch gültig oder legitim betrachte.
Für seine Überzeugung von den Defiziten dieser Positionen führt Hart eine Reihe von Argumenten an:
1. die Worte von X im großen und ganzen als Maßstab richtigen Verhaltens akzeptieren, so daß Abweichungen von diesem Maßstab (anders als bloße Abweichungen von einer gängigen sozialen Verhaltensweise, wie etwa der Sitte, Tee oder Kaffee zu trinken) einen Anlass für Kritik bilden, und daß sie
2. die Worte von X im allgemeinen als Grund für ihr eigenes Handeln, für ihre Verhaltenserwartungen gegenüber anderen sowie für die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen bei Abweichungen anführen.
Die Frage, wie viele Mitglieder einer sozialen Gruppe (einfache Bürger oder Beamte) diese Dinge wie häufig und wie lange tun müssen, damit die genannten Bedingungen als erfüllt gelten können, lässt sich nicht präzise beantworten — so wenig, wie sich genau sagen lässt, wie alt jemand sein muss, um mittleren Alters zu sein. Aber in jeder sozialen Gruppe, in der Rechtspflichten im Wege der Gesetzgebung erzeugt werden und in der die Wendungen »Ich habe eine Rechtspflicht, so zu handeln« und »Er hat eine Rechtspflicht, so zu handeln« die derzeit übliche Bedeutung besitzen, muss es eine soziale Praxis geben, die wenigstens so komplex ist, wie ich es beschrieben habe, und nicht bloß eine Gehorsamsgewohnheit der Gruppenmitglieder. Jeder, der sagt, er oder ein anderer sei zu einer bestimmten Handlung rechtlich verpflichtet, bringt damit zum Ausdruck, daß seine eigene Einstellung gegenüber den Worten des Gesetzgebers von der oben beschriebenen Form ist; denn diese Verpflichtungsurteile dienen dazu, Schlussfolgerungen aus Rechtsnormen zu ziehen, die der Urteilende als für sich verbindlich anerkennt. Jemand, der eine solche Verbindlichkeit ganz und gar ablehnt, könnte sich natürlich trotzdem klarmachen, daß eine Missachtung der Normen ihm Schaden bringen würde. Doch die natürliche Ausdrucksweise für diese Einstellung wäre nicht »Ich bin verpflichtet, x zu tun«, sondern »Ich bin genötigt, x zu tun« oder »Ich werde unter diesem System Schaden nehmen, wenn ich nicht x tue«.“ (Hart 2002, S. 51ff.)
Eine Auffassung, die nur auf die „gewohnheitsmässige“ oder „regelmässige“ Rechtsbefolgung abstellt, kann das „Wesen einer Rechtsordnung“ indem diese Aspekte der Akzeptanz einer Rechtsordnung „im Grossen und Ganzen“ und der Verhaltensmotivation nicht berücksichtigt, nach Harts Meinung also nicht erfassen. Das habe Kelsen richtig gesehen; er habe aber unrecht, indem er mit seiner Grundnorm eine eigene Konzeption der fundamentalen Norm als eine „Hypothese“ oder eines „Axioms“ dessen Gültigkeit vorausgesetzt“ sei oder „postuliert“ werde, eine Reihe ganz unpassender, quasi-mathematischer Ausdrücke ins Spiel bringe.
Man müsse sich, um die Frage der Gültigkeit (oder Geltung) des Rechts zu klären, statt dessen auf die in einer sozialen Gruppe tatsächlich akzeptierten Normen beziehen:
Gegen die „dritte Fehlkonzeption“, die Auffassung, die allgemeine Anerkennung einer moralischen Pflicht zur Rechtsbefolgung, sei eine „logisch notwendige Voraussetzung“ für die Existenz einer Rechtsordnung, argumentiert Hart wie folgt:
Als nächstes, meint Hart, müsse man noch jenes Element erörtern, das die meisten Leute als das hervorstechendste Merkmal rechtlicher Verpflichtung ansehen würden: die bedeutsame Verbindung zwischen rechtlicher Verpflichtung und Nötigung oder Zwang.
1. den physischen Zwang zu einer Handlung;
2. die Nötigung zu einer Handlung;
3. die Verpflichtung zu einer Handlung.“ (Hart 2002, S. 56)
Die Hauptschwierigkeit in diesem Zusammenhang bestehe darin, die Beziehung zwischen dem dritten und den beiden übrigen Begriffen zu beschreiben, ohne dabei in Extreme zu verfallen. Austin, ein früher rechtspositivistischer Theoretiker, der die Existenz einer Rechtspflicht auf das Bestehen eines sanktionsbewehrten Befehls des Souveräns zurückführte, habe diese Beziehung in verhängnisvoller Weise überbewertet:
Der augenfälligste Fehler dieser Definition bestehe darin, dass sie auch dann erfüllt sei, wenn ein Räuber mit gezückter Pistole von jemandem die Herausgabe seiner Brieftasche verlange:
Auch wenn man die Unterschiede von Austins Konzeption einer rechtlichen Verpflichtung anerkenne – diese unterscheide sich vom simplen Modell des Räubers immerhin in einer Reihe von Punkten: die Befehle entstammten dem staatlichen Souverän, dem der überwiegende Teil der Bevölkerung Gehorsam leiste; diese seien abstrakt und für jedermann verbindlich und Austin betone, dass auch das Bewusstsein, die Furcht vor drohendem Übel zur Begründung einer Verpflichtung gehöre – benennt Hart eine Reihe grundlegender Fehler, die er an Austins Auffassung sieht. Um diesen lokalisieren zu können, müsse man Austins These zunächst auf den Punkt bringen:
Aber selbst wenn man einräume, dass zwischen dem Begriff der »Rechtsordnung« und dem Begriff der »Sanktion« im Sinne einer Übels- oder Schadenszufügung eine analytische Verknüpfung besteht, führe eine Definition des Verpflichtungsbegriffs, die auf die Wahrscheinlichkeit und das Bewüstsein der angedrohten Übelszufügung abstellt, zu Absurditäten:
Zum zweiten sei die Behauptung, dass jemand in einer bestimmten Situation eine bestimmte Verpflichtung hat, ganz unabhängig davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Übelszufügung eingeschätzt werden müsse‚ obwohl diese Wahrscheinlichkeit sehr wichtig sein könne, wenn man beurteilen wolle, ob jemand genötigt war, das zu tun, was er in einer bestimmten Situation getan hat.
Der grundsätzlichste Einwand gegenüber der Austinschen Analyse rechtlicher Verpflichtung als sanktionsbewehrtem Befehl des Souveräns bestehe jedoch darin, dass die unpassenden Begriffe des Bewusstseins und der Wahrscheinlichkeit der Übelszufügung deshalb irreführend seien, weil sie ein zentrales Element jeder Rechtsordnung verschleierten: nämlich die „Existenz von Normen“, die Hart selbst in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt:
Weder der Gewohnheits- noch der Befehlsbegriff (mit seinem Rekurs auf die angedrohte Übelszufügung) reichen hierzu aus. Der Zwang, um den es hier geht, kann in der Tat — wie im Fall einer innerstaatlichen Rechtsordnung — die Form einer Übelszufügung annehmen. Aber dort, wo dies der Fall ist, muss die Übelszufügung selbst wiederum von den Normen des Systems vorgesehen sein. Wie offenkundig auch die faktische Macht eines Gesetzgebers, einem bestimmten Verhalten mit Sanktionen entgegenzutreten, sein mag: Seine Androhung und sogar seine Anwendung von Gewalt zur Erzwingung von Gehorsam würde keine Pflichten begründen, wenn die Sanktionen nicht durch die entsprechenden rechtlichen Normierungen vorgesehen würden. Allenfalls wären die Menschen genötigt, den Androhungen des Gesetzgebers zu folgen. Daher ist das wesentliche Element rechtlicher Zwangsgewalt nicht die Tatsache (die Wahrscheinlichkeit der das Bewusstsein), daß dem Ungehorsam ein Übel folgt, sondern die Existenz eines Systems von Normen, das bestimmten Personen die Autorität verleiht, gewisse Verhaltensweisen zu verbieten und Übertretungen der Verbote mit den dem System eigenen Mitteln des Zwanges, der Repression oder der Strafe zu begegnen. Dieser letzte Gedanke muss in gewisser Weise eingeschränkt, wenn auch nicht preisgegeben werden. In jeder innerstaatlichen Rechtsordnung gibt es Normen, für deren Bruch keine Sanktionen vorgesehen sind. Obschon es möglicherweise ohne logischen Zirkel oder infiniten Regress eine selbstbezügliche Norm geben könnte, wonach alle Beamten für alle Normverletzungen — einschließlich der Verletzung dieser Norm selbst — Sanktionen verhängen müssten, wird doch gewöhnlich von den staatlichen Beamten die Befolgung gewisser Rechtsnormen auch ohne die Androhung einer Sanktion erwartet. So verhält es sich zum Beispiel mit der in er Verfassung der USA verankerten Pflicht des amerikanischen Präsidenten, über die ordnungsgemäße Ausführung er Gesetze zu wachen. Dennoch zögern wir auch in diesen Fällen nicht, von einer Amtspflicht oder rechtlichen Verpflichtung zu sprechen. Sie zeigen, daß selbst innerhalb einer Rechtsordnung die komplexen Merkmale, die den Standardfall der Verpflichtung kennzeichnen, auseinanderfallen können. Diese Tatsache kommt in der juristischen Terminologie, etwa der des römischen Rechts zum Ausdruck, wo von »unvollkommenen Pflichten« die Rede ist. Und sie nährt den Zweifel daran, ob Völkerrecht »echtes« Recht ist oder besser als ein Zweig der Moral betrachtet werden sollte.“ (Hart 2002, S. 59f.)
Eine Auffassung, welche ihr Augenmerk nur oder hauptsächlich auf Bestimmungen richte, welche die Sanktion von Rechtsverstössen forderten, verkenne die „typische Funktionsweise“ vieler, etwa strafrechtlicher, Normen. Strafrechtliche Bestimmungen zur Sanktion rechtswidrigen Verhaltens durch Gerichte griffen nur ein, wenn die Rechtsordnung ihren primären Zweck verfehle, nämlich Verhaltenssteuerung und soziale Kontrolle:
…
Um ein zutreffendes Bild von der Wirkungsweise des Rechts zu gewinnen, ist es selbstverständlich wichtig, zu begreifen, wie die Gerichte verfahren, wenn es darum geht, die angedrohten Sanktionen zu verhängen. Aber das sollte uns nicht zu dem Glauben verleiten, daß wir uns auf das Verständnis dessen, was vor Gericht geschieht, beschränken können. Die wesentlichen Funktionen des Rechts als eines Mittels sozialer Kontrolle werden nicht in Zivil- oder Strafprozessen sichtbar. Gerichtsverfahren sind wichtige, aber nur hilfsweise Vorkehrungen, falls das System versagt. Die Hauptfunktionen des Rechts ergeben sich vielmehr aus dem vielfältigen Gebrauch, den man von Rechtsnormen macht, um das soziale Leben auch ohne Gerichte zu kontrollieren, zu lenken und zu planen.“ (Hart 2002, S. 61ff.)
Als Beispiel für sein Argument führt Hart eine theoretische Uminterpretation der Regeln eines Fussballspiels an:
Nehmen wir an, ein Theoretiker, der sich mit den Regeln des Fußballspiels befasst, würde behaupten, in diesen Regeln einen gemeinsamen Kern gefunden zu haben, der durch ihre sprachliche Fassung sowie durch die landläufige Meinung, daß einige von ihnen sich primär an die Spieler, andere primär an die Schiedsrichter und wieder andere an beide Personengruppen wenden, verdeckt werde. Statt dessen vertritt er die Meinung, alle Regeln seien in Wirklichkeit Anweisungen an die Schiedsrichter, unter bestimmten Voraussetzungen in einer bestimmten Weise zu reagieren. Die Regel, daß ein Tor erzielt worden ist, wenn der Ball die Torlinie in vollem Umfang überschritten hat, oder die Regeln, die das Foulspiel verbieten, seien in Wahrheit komplexe Anweisungen an die Schiedsrichter, ein Tor zu pfeifen beziehungsweise einen Freistoß zu verhängen.
Das Gegenargument gegen eine solche Umdeutung liege nahe:
Zudem würden durch eine Theorie, welche Recht nur in seiner Funktion der Auferlegung eines Zwangsbefehls konzipiere, alle diejenigen Vorschriften, die rechtliche Befugnisse verleihen und die Art ihrer Ausübung regeln, auf diese eine Modell des Zwangsbefehls reduziert:
Nachdem Hart also seinen eigenen Entwurf zur Erklärung der „Existenz einer Rechtsordnung“ zunächst in kritischer Auseinandersetzung mit älteren rechtspositivistischen Theorien erläutert hat, wendet er sich nun verbindungstheoretischen Konzepten zu. Zunächst macht er deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die Bedeutung der Moral für Entstehung und Praxis des Rechts herunter zu spielen:
Gesetze müssen ausgelegt werden, damit man sie auf konkrete Fälle anwenden kann. Wenn die Mythen, die die wahre Natur der Rechtsanwendung verschleiern, erst einmal durch eine realistische Analyse zerstört worden sind, ist es offenkundig, daß die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe einen breiten Raum für kreative Tätigkeit lässt. Mancher würde hier sogar von »gesetzgeberischer» Tätigkeit sprechen. Richter stehen bei der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen und bei der Interpretation von Präzedenzfällen nicht vor der Alternative zwischen blinder, willkürlicher Dezision einerseits und mechanischer Deduktion aus starren Regeln andererseits. Häufig werden sie sich von der Annahme leiten lassen, daß die von ihnen auszulegenden Normen einen vernünftigen Zweck verfolgen, das heißt, daß sie nicht auf die Herbeiführung von Unrecht oder auf die Verletzung etablierter Moralprinzipien abzielen.
Juristische Entscheidungen verlangen oft —insbesondere bei Grundfragen desVerfassungsrechts— eine Wahl zwischen konkurrierenden moralischen Wertvorstellungen und nicht die bloße Anwendung nur eines dominierenden Moralprinzips. Es wäre töricht anzunehmen, daß die Moral überall dort eine klare Antwort bereithält, wo die Bedeutung des Rechts umstritten ist. Auch hier vermag der Richter eine Entscheidung zu treffen, die weder mechanisch deduzierbar noch willkürlich ist. Gerade in diesem Bereich können typische richterliche Tugenden zur Entfaltung kommen. Sie sind so sehr auf richterliches Entscheiden ausgerichtet, daß manche es für problematisch halten, in diesem Zusammenhang von »gesetzgeberischer» Tätigkeit zu sprechen. Diese Tugenden sind: Unparteilichkeit und Neutralität bei der Prüfung der Entscheidungsalternativen; Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen; das Bemühen, ein annehmbares allgemeines Prinzip als vernünftige Entscheidungsgrundlage zu entwickeln. Da stets verschiedene Prinzipien in Frage kommen, kann zweifelsohne nicht bewiesen werden, daß eine bestimmte Entscheidung die einzig richtige ist. Aber diese Entscheidung kann dadurch annehmbar gemacht werden, daß man sie als das begründete Ergebnis einer auf Information und Unparteilichkeit beruhenden Wahl ausweist. In alledem begegnet uns jenes Moment des Abwägens und Ausgleichens, das charakteristisch ist für das Bemühen, konkurrierenden Interessen gerecht zu werden.
Kaum jemand streitet die Bedeutung dieser Faktoren ab, die man angesichts ihrer Funktion, Entscheidungen annehmbar zu machen, ruhig als »moralisch» bezeichnen kann. Sie kommen häufig in irgendeiner Form in den informellen und wechselnden Auslegungsregeln zum Ausdruck, die in den meisten Rechtsordnungen eine Rolle spielen.“ (Hart 2002, S. 65ff.)
Die Annahme einer notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral rechtfertige dies aber nicht – man dürfe nicht vergessen, dass diese Regeln der Rechtsfindung in der Praxis fast so oft gebrochen wie befolgt worden seien.
Trotz dieser, für rechtspositivistische Theorien charakteristischen, begrifflichen Trennung zwischen Recht und Moral, mein Hart in einer berühmt gewordenen Formulierung, enthalte Recht notwendigerweise einen „minimalen Gehalt an Naturrecht“:
Man kann diese Minimalform der Gerechtigkeit durchaus als «natürliche Gerechtigkeit« bezeichnen. Weitere ihrer Aspekte ergeben sich aus einer Untersuchung der gemeinsamen Merkmale solcher Methoden sozialer Kontrolle (sei es der Normen eines Spiels oder der Normen des Rechts), die ihre Kontrollfunktion in erster Linie dadurch erfüllen, daß sie sich mit allgemeinen Verhaltensanforderungen an bestimmte Personengruppen wenden, von denen dann erwartet wird, daß sie die Normen ohne weitere Anleitung verstehen und befolgen. Wenn diese Art der sozialen Kontrolle wirksam sein soll, müssen die Normen bestimmten Bedingungen genügen: Sie müssen verständlich und für die Mehrheit befolgbar sein; außerdem dürfen sie im allgemeinen nicht rückwirkend gelten, obwohl hier Ausnahmen möglich sind. Das bedeutet, daß diejenigen, die schließlich für einen Normverstoß bestraft werden, im großen und ganzen die Fähigkeit und die Chance gehabt haben müssen, den Normen zu gehorchen. Es ist klar, daß diese allgemeinen Merkmale einer durch Normen ausgeübten Kontrolle eng mit jenen Erfordernissen der Gerechtigkeit verwandt sind, die von Juristen als Prinzipien der Legalität betrachtet werden. In der Tat hat ein Kritiker des Rechtspositivismus behauptet, daß diese Merkmale auf eine notwendige Verbindung von Recht und Moral hinauslaufen, und hier von einer «inneren Moralität des Rechts« gesprochen. Wenn das mit der These von der notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral gemeint sein soll, können wir auch insoweit dieser These zustimmen. Leider ist diese «innere Moralität des Rechts« mit einem hohen Maß an Ungerechtigkeit vereinbar.“ (Hart 2002, S. 69f.)
Diese Formen einer Verbindung von Recht und Moral hätten nach Harts Einschätzung „nur wenige“ der positivistischen Rechtstheoretiker, so unvorsichtig sie ihren allgemeinen Standpunkt einer radikalen Trennung von Recht und Moral auch formuliert hätten (so etwa Kelsen mit seiner Aussage: „Rechtsnormen können jeden beliebigen Inhalt haben“, s.o., Wiederholungsebene), bestritten. Das wichtigste Anliegen dieser Denker sei es vielmehr gewesen, eine „durchsichtigere und ehrlichere“ Formulierung der theoretischen und moralischen Probleme zu finden, die sich aus der Existenz moralisch verwerflicher, jedoch formal ordnungsgemäss erlassener und damit „gültiger“ Gesetze ergäben.
Der entgegengesetzte Standpunkt, der eine notwendige Verbindung von Recht und Gerechtigkeit annimmt, meint Hart, erscheine dann als attraktiv, wenn nach einer Revolution oder einer grösseren politischen Umwälzung die Gerichte zu jenen moralischen Vergehen Stellung nehmen müssten, die von Beamten unter dem früheren Regime in gesetzlicher Form begangen worden seien. Hart nimmt in diesem Abschnitt Stellung zu Inhalt und historischem Kontext der „Radbruchschen Formel“ (s.o. Wiederholungsebene).
So einfach auch die Streitfrage zwischen denjenigen, die moralisch verwerflichen Gesetzen den Rechtscharakter absprechen, und denjenigen, die das nicht tun, aussieht, so sehr scheinen sich doch die Disputanten über den allgemeinen Charakter des Problems häufig im unklaren zu sein. Es trifft zwar zu, daß es sich hier um alternative Formulierungen einer moralischen Entscheidung handelt —der Entscheidung, verwerfliche Gesetze nicht anzuwenden, sie nicht zu befolgen sowie anderen nicht zu gestatten, sich unter Berufung auf sie zu verteidigen. Und doch ist das Problem nicht eigentlich sprachlicher Natur. Keine der beiden Seiten in diesem Streit wäre zufrieden, wenn man ihr sagen würde: »Ja, Sie haben recht, auf englisch (oder auf deutsch) bringt man eine derartige Entscheidung genauso zum Ausdruck, wie Sie es getan haben«. Der Positivist könnte zwar unter Bezugnahme auf den Sprachgebrauch zeigen, daß die Behauptung, eine Rechtsnorm sei zu verwerflich, um Gehorsam zu verdienen, nicht widersprüchlich ist, und daß aus der Aussage, eine Norm sei moralisch verwerflich, nicht folgt, daß sie keine gültige Rechtsnorm ist. Doch würden die Gegner des Positivismus das Problem damit kaum als erledigt betrachten.“ (Hart 2002, S. 71ff.)
Es sei damit klar, dass diese Fragen nicht angemessen behandeln zu behandeln seien, wenn man darin nur eine Angelegenheit des korrekten Sprachgebrauchs sehe. Denn in Wirklichkeit gehe es um die Bewertung der Vor- und Nachteile eines weiteren oder engeren Begriffs zur Erfassung von Normen, die zu einem bestimmten, im Grossen und Ganzen wirksamen sozialen Normensystem gehören. Um sich aus gutem Grund für eine der beiden Konzeptionen entscheiden zu können, müsse man herausfinden, welche sich für theoretische Untersuchungen und moralische Überlegungen als fruchtbarer oder klärender erweise:
Es dürfte klar sein, daß mit dem engeren Begriff für die theoretische oder wissenschaftliche Analyse des sozialen Phänomens »Recht« nichts gewonnen wird: Er führt zum Ausschluss von Normen, die sämtliche anderen komplexen Merkmale des Rechts aufweisen. Die Untersuchung dieser Normen durch eine andere Disziplin als die Rechtswissenschaft könnte nur Verwirrung stiften, und weder in rechts-geschichtlichen noch in anderen juristischen Studien hält man ein solches Vorgehen für zweckmäßig. Der weitere Rechtsbegriff erlaubt uns dagegen, in seinem Rahmen auch moralisch verwerfliche Gesetze im einzelnen zu analysieren und die Reaktion der Gesellschaft auf sie zu untersuchen. Unsere Bemühungen um das Verständnis von Entwicklung und Möglichkeiten sozialer Kontrolle durch ein System primärer und sekundärer Normen würden also durch den Gebrauch des engeren Rechtsbegriffs in verwirrender Weise aufgespalten. Eine vollständige Analyse dieser Technik sozialer Kontrolle umfasst auch die Analyse ihres Missbrauchs.
Wie steht es nun mit dem praktischen Nutzen des engeren Rechtsbegriffs im Kontext moralischer Überlegungen? Inwiefern ist es angesichts moralisch verwerflicher Vorschriften besser, sie überhaupt nicht als Recht anzusehen, als der Meinung zu sein, daß sie zwar zum positiven Recht gehören, aber zu verwerflich sind, um angewendet oder befolgt zu werden? Würde das die Menschen klarsichtiger machen oder ihre Bereitschaft fördern, das Gesetz zu missachten, falls die Moral es fordert? Würden jene Probleme, wie sie das Naziregime hinterlassen hat, leichter lösbar werden?
Ohne Zweifel haben Ideen ihren Einfluss. Aber dadurch, daß man die Bürger zum Gebrauch eines engeren Begriffs rechtlicher Gültigkeit erzieht, in dem kein Platz für gültiges, aber moralisch verwerfliches Recht ist, wird man den Widerstand gegen das Böse angesichts der Drohungen organisierter Macht wohl kaum stärken können. Und man wird auch nicht zu einer klareren Erkenntnis dessen beitragen, was moralisch auf dem Spiele steht, wenn Rechtsgehorsam gefordert wird. Solange sich Menschen zur Beherrschung ihrer Mitmenschen auf die Loyalität einer ausreichenden Minderheit stützen können, werden sie sich zur Erreichung ihrer Ziele unter anderem auch der verschiedenen Formen des Rechts bedienen. Schlechte Menschen werden schlechte Gesetze erlassen und mit Hilfe anderer Menschen durchsetzen. Der Bürger kann nur dann gegenüber staatlichem Machtmissbrauch feinfühlig werden, wenn man ihm den Sinn dafür bewahrt, daß die Feststellung, etwas sei gültiges Recht, nicht ohne weiteres eine Gehorsamspflicht zur Folge hat und daß die Ansprüche einer staatlichen Ordnung, mag sie auch von einer noch so starken Aura von Majestät oder Autorität umgeben sein, letztlich doch einer moralischen Prüfung unterliegen müssen. Diese Einsicht, daß es jenseits der staatlichen Ordnung etwas gibt, auf das das Individuum zurückgreifen muss, um das Problem des Rechtsgehorsams für sich zu lösen, kann man sicherlich eher in denen wach halten, die an den Gedanken gewöhnt sind, daß Rechtsnormen ungerecht sein können, als in denen, die glauben, daß Unrecht niemals den Status von Recht erlangen kann.
Ein vielleicht noch stärkeres Argument für die Bevorzugung des weiteren Rechtsbegriffs, der es uns erlaubt, auch verwerfliche Normen als Rechtsnormen zu bezeichnen, liegt darin, daß man die vielfältigen moralischen Probleme, die im Zusammenhang mit verwerflichen Rechtsnormen auftreten können, in unzulässiger Weise vereinfacht, wenn man diesen Normen die rechtliche Anerkennung vorenthält. Altere Autoren wie Bentham und Austin legten auf die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, unter anderem deshalb so großen Wert, weil sie glaubten, ohne diese Unterscheidung würden die Menschen dazu neigen, voreilig und ohne Rücksicht auf mögliche Schäden für die Gesellschaft bestimmte Gesetze für ungültig und nicht befolgbar zu erklären. Doch abgesehen von dieser Gefahr der Anarchie, die Bentham und Austin möglicherweise überschätzt haben, handelt es sich hier auch noch in anderer Hinsicht um eine unzulässige Vereinfachung. Wenn wir unser Augenmerk nur auf das Gehorsamsproblem richten, welches für den einzelnen gegenüber den Anforderungen verwerflicher Vorschriften entsteht, dann könnte es als gleichgültig erscheinen, ob der Betreffende glaubt, es mit einer gültigen »Rechts«norm zu tun zu haben oder nicht, sofern er nur ihre moralische Verwerflichkeit erkannt hat und sich entsprechend verhält. Aber außer dem Problem des Gehorsams (Soll ich diese schlechte Handlung ausführen?) besteht noch Sokrates Problem der Unterwerfung: Soll ich die Strafe für meinen Ungehorsam auf mich nehmen oder soll ich fliehen? Und es gibt auch noch das Problem, mit dem die deutschen Nachkriegsgerichte konfrontiert waren: Sollen wir jene bestrafen, deren Übeltaten zur Zeit der Begehung durch verwerfliche Gesetze gestattet waren? — Aus diesen Fragen ergeben sich ganz unterschiedliche Probleme der Moral und der Gerechtigkeit, die es unabhängig voneinander zu untersuchen gilt. Diese Probleme werden nicht dadurch gelöst, daß man sich ein für allemal weigert, schlechte Gesetze unter welchem Gesichtspunkt auch immer als gültig anzuerkennen. Auf so grobe Weise lassen sich heikle und vielschichtige moralische Probleme nicht bewältigen. Ein Rechtsbegriff, der es erlaubt, die Ungültigkeit des Rechts von seiner Unsittlichkeit zu unterscheiden, versetzt uns in die Lage, die Komplexität und Vielfalt dieser unterschiedlichen Fragen zu erkennen, wohingegen ein enger Rechtsbegriff, der verwerflichen Normen die rechtliche Gültigkeit versagt, uns diesen Problemen gegenüber leicht blind macht. Es ist zwar richtig, daß die deutschen Denunzianten, die aus eigennützigen Motiven andere einer Bestrafung aufgrund verabscheuungswürdiger Gesetze auslieferten, gegen die Moral verstießen. Aber die Moral verlangt möglicherweise auch, daß der Staat nur jene Übeltaten bestraft, die bereits zur Tatzeit mit Strafe bedroht waren. Diese Forderung ist enthalten in dem Grundsatz «nulla poena sine lege«.
Wenn man von diesem Grundsatz Ausnahmen machen muss, ohne ein noch größeres Übel als die Preisgabe des Grundsatzes selbst zu vermeiden, so ist es unbedingt notwendig, die anstehenden Probleme deutlich herauszuarbeiten. Man sollte einen Fall rückwirkender Bestrafung nicht so hinstellen, daß der Anschein entsteht, es handele sich um einen Normalfall der Bestrafung einer zur Tatzeit rechtswidrigen Handlung. Für die einfache positivistische Lehre, daß moralisch verwerfliche Normen trotz ihrer Verwerflichkeit gültiges Recht sein können, spricht zumindest folgendes: Wenn unter extremen Umständen eine Wahl zwischen verschiedenen Übeln getroffen werden muss, so lässt sich dies mit den Mitteln der positivistischen Lehre jedenfalls nicht verschleiern.“ (Hart 2002, S. 73ff.)