8.1.3 Wozu Methodenlehre?
Was kann die Methodenlehre leisten; wo liegen ihre Grenzen?
Antwort (Klicken Sie hier)
Mit den Auslegungsargumenten stellt die Methodenlehre dem Rechtsanwender ein Instrumentarium zur Seite, das ihm angesichts
der Unklarheit und Unbestimmtheit des Wortlauts und der Lückenhaftigkeit des Gesetzes helfen soll, den Sinn eines abstrakten
Rechtsatzes zu ermitteln.
Damit trägt die Methodenlehre sowohl zu einer dem jeweiligen konkreten Einzelfall möglichst angemessenen Normanwendung bei
(Einzelfallgerechtigkeit) wie auch dazu, dass Rechtssätze nicht im Laufe der Zeit „erstarren“, sondern mit der Gesellschaft „mitwachsen“ (Anpassung des Rechts an sich wandelnde Verhältnisse). Ausserdem befördert die Methodenlehre ein Stück weit die Rationalisierung des Rechtsfindungsprozesses, denn der Auslegungskanon schränkt den Spielraum der Gesetzesinterpretation ein und beugt missbräuchlicher Rechtsanwendung
vor. Relative Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsfindung tragen auch zur Rechtssicherheit bei – wobei aber gleich zu betonen ist, dass aus der Auslegung kein naturwissenschaftlich exaktes, beweis- oder vorhersehbares
Ergebnis resultiert, da dem Wesen des Rechts das Element der Wertung eigen ist. Dennoch sorgt die Methodenlehre für ein Mindestmass
an Transparenz der richterlichen Erwägungen und des darauf basierenden Urteils. Mittelbar dürfte sie damit auch der Akzeptanz des Rechts(systems) durch die Rechtsunterworfenen dienen und damit dem Rechtsfrieden zugute kommen. Schliesslich bedeutet das methodengebundene Vorgehen bei der Rechtsauslegung in gewisser Hinsicht auch die
Beherzigung des Grundsatzes der Gesetzesbindung des Richters, der wiederum vom Gewaltenteilungsprinzip inspiriert ist.
Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Vernünftigkeit der rechtswissenschaftlichen Methode. Das Auslegungsergebnis ist
abhängig von der Methode, allerdings lassen sich überzeugende Antworten auf Auslegungsfragen nicht aus einer mechanistischen
Anwendung bestimmter Auslegungstechniken gewinnen. Zum einen bleibt dem Richter im Rahmen des Methodenpluralismus bezüglich
der Gewichtung meist ein erheblicher Wertungsspielraum. Sodann ist durch die Methodenwahl das Ergebnis der Argumentation keineswegs
determiniert: Bei jedem (und besonders beim teleologischen) Auslegungsargument kommt es auf wertende Urteilsakte an, weshalb
in einer Auslegungsfrage auch ein und dieselbe Methode zu diametralen Resultaten führen kann (siehe das Beispiel unten zum
kantonalen Frauenstimmrecht in VD und AI).
Geht man davon aus, dass alle Methode Wertungseinflüsse nicht verhindern kann, hängt die Rationalität der Methode von der
Rationalität der Wertung ab. Die Frage, wie ein inhaltlich vernünftiges Ergebnis erzielt werden kann, d. h. auf welcher Grundlage es beruhen soll,
leitet über in das Gebiet der Rechtsethik und –theorie. Weitere Ansätze finden sich auch etwa in den Kognitionswissenschaften
(z.B. der Linguistik; Untersuchung von universalen sprachlichen und begrifflichen Strukturen, die den jeweiligen konkreten
Kontext überwinden).
Illustratives Beispiel für die Abhängigkeit des Auslegungsergebnisses von der Methodenauswahl und vom dem Wertungselement:
Beispiel (Klicken Sie hier)
Im Jahr 1957 (BGE I 173) hatte das Bundesgericht sich mit dem Frauenstimmrecht im Kanton Waadt zu befassen. Zu entscheiden
war die Frage, ob unter Art. 23 der waadtländischen Kantonsverfassung von 1885, wonach aktive Staatsbürger „tous les Suisses
agés de vingt ans revolus (…)“ seien, auch Frauen zu subsumieren seien. Das Bundesgericht verneinte dies, gestützt in erster
Linie auf das historische Argument, es sei klar, dass der Verfassungsgeber seinerzeit mit „Suisses“ nur männliche Schweizer
gemeint habe. Dies stehe schon deshalb ausser Zweifel, weil sich die Frage, ob Frauen politische Rechte zukommen, damals in
der Praxis gar nicht gestellt habe, sondern höchstens von einzelnen ihrer Zeit vorauseilenden Geistern theoretisch aufgeworfen
worden sei.
Gerade gegenteilig entschied das Bundesgericht 1990 im Streit um das Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell I. Rh. (BGE 116 Ia 359): In Art. 16 der Kantonsverfassung war bezüglich des Stimm- und Wahlrechts von „Landleuten“ bzw. „Schweizern“ die Rede. Hier
stellte das Bundesgericht gestützt auf eine systematisch-verfassungskonforme sowie objektiv-zeitgemässe Argumentation fest,
dass diese Begriffe nach heutigem Verständnis auch Schweizerinnen einschlössen. Das Verfassungsverständnis unterliege einem
stetigen Wandel und der Grundsatz der rechtlichen Gleichheit zwischen Mann und Frau sei inzwischen so tief im Rechtsgefühl
verwurzelt, dass es heute als Verletzung dieses Grundsatzes empfunden werde, wenn beispielsweise ein Mann und eine Frau nicht
gleich bezahlt werden, sofern sie die gleiche Arbeit leisten. Bezüglich des historischen Auslegungselements betont das Bundesgericht
sodann, dass Materialien zwar hilfreich sein könnten, dass der Wille des historischen Gesetzgebers jedoch keine unbeschränkte
Geltung habe:
„Das Bundesgericht lässt sich von einem Methodenpluralismus leiten. Es geht zunächst vom Wortlaut der Bestimmungen aus und
ermittelt den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung nach allen anerkannten Auslegungsmethoden. Dabei ist zu beachten, dass sich der Sinn einer Norm
ändern kann. Der Richter muss sich bemühen, eine Norm in einer Weise anzuwenden, die den gegenwärtigen Gegebenheiten und Auffassungen
möglichst entspricht. Er wird daher oft dazu kommen, eine hergebrachte Auslegung aufzugeben, die zur Zeit der Entstehung des
Gesetzes zweifellos gerechtfertigt war, sich aber angesichts der Änderung der Verhältnisse oder auch nur wegen der Entwicklung
der Anschauungen nicht mehr halten lässt (…).
Bei der Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung zieht das Bundesgericht auch die Gesetzesmaterialien bei und berücksichtigt
den Willen des historischen Verfassungs- und Gesetzgebers, soweit dieser im Gesetzestext seinen Ausdruck gefunden hat. Die Entstehungsgeschichte einer
Norm kann ein wertvolles Hilfsmittel sein, deren Sinn zu erkennen und damit falsche Auslegungen zu vermeiden. Die Vorarbeiten
sind aber weder verbindlich noch für die Auslegung unmittelbar entscheidend; insbesondere sind Äusserungen von Amtsstellen
oder Personen, die bei der Vorbereitung mitwirkten, nicht massgebend, wenn sie im Gesetzestext nicht zum Ausdruck kommen.
Bei der Prüfung der Verfassungsmässigkeit einer kantonalen Norm ist überdies zu fragen, ob der betreffenden Norm nach anerkannten
Auslegungsregeln ein Sinn zugemessen werden kann, der sie mit den angerufenen Verfassungsgarantien vereinbar erscheinen lässt.
(…)
Der Weg der verfassungskonformen Auslegung stünde nur dann nicht offen, wenn diese dazu führen würde, den klaren Sinn und insbesondere den klaren Wortlaut der in Frage
stehenden Norm beiseite zu schieben. Dies ist hier nicht der Fall. Gemäss Art. 16 Abs. 1 KV sind alle im Kanton wohnhaften
"Landleute" sowie die übrigen "Schweizer" an Landsgemeinden und an Gemeindeversammlungen stimmberechtigt. Der Wortlaut dieser
Bestimmung steht einer verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Ausser Zweifel steht nämlich, dass zu den Schweizern
nach heutigem Verfassungsverständnis Schweizer und Schweizerinnen gehören. Auch der Begriff "Landleute", der die Bürger des
Kantons Appenzell I. Rh. bezeichnet, kann im Lichte von Art. 4 Abs. 2 BV [aBV 1874, Rechtsgleichheit von Mann und Frau] so
verstanden werden, dass er auch die Bürgerinnen einschliesst, umfasst doch die Bezeichnung "Leute" im gewöhnlichen Sprachgebrauch
Männer und Frauen." (Hervorhebungen hinzugefügt)
Rechtsanwender können sich wertenden Urteilsakten letztlich nicht entziehen Im Zusammenhang mit der Frage, auf welcher die Grundlage diese Werturteile beruhen, fällt häufig der Begriff des Vorverständnis. Durch wen wurde der Begriff geprägt und was versteht man darunter?
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Das Vorverständnis ist ein zentraler Begriff in der neueren Hermeneutik (H.-G. Gadamer, 1900-2002), der auch in die juristische Methodenlehre rezipiert wurde (J. Esser, 1910-1999). Die neuere Hermeneutik geht
von einer untrennbaren Verbindung zwischen dem zu interpretierenden Text und dessen Interpreten aus. Der Interpret trete dem
Text nicht unbefangen gegenüber, sondern stets mit einem Vorurteil im Sinne einer antizipierten Erwartung. Für Gadamer bedeutet
ein solches „Vor-Urteil“ per se nichts Negatives, vielmehr sei es notwendig für jedes Verstehen. Es leite den Verstehensvorgang
und werde im Zuge des Verstehensprozesses laufend korrigiert und verfeinert. Dieser Vorgang verläuft spiralenförmig und unendlich
(hermeneutischer Zirkel). Das Vorverständnis entwickelt sich wesentlich aus dem jeweiligen geschichtlichen Kontext des Interpreten,
den er an den in der Vergangenheit entstanden Text herantrage. Auf diese Weise würden vergangener und aktueller Verständnishorizont
miteinander verschmolzen; es komme zu einer Vermittlung von „Damals“ und „Heute“. Bei dieser „Applikation“ gehe es also nicht
um die Ermittlung des ursprünglichen Sinngehaltes des Gesetzes, vielmehr gelte es für den Juristen, sich den eingetretenen
Wandel der Verhältnisse einzugestehen und die normative Funktion des Gesetzes neu zu bestimmen (Rechtsergänzung).
Aus diesem spezifischen theoretischen Rahmen herausgelöst, wird unter Vorverständnis allgemeiner der – für die Juristerei
besonders wichtige – Sachverhalt bezeichnet, dass jede Auslegung vor dem individuellen Hintergrund einer Gesamtheit von potentiell
entscheidungsleitenden Vorstellungen und Haltungen des Interpreten erfolgt. Die klassische Methodenlehre geht zwar davon aus,
dass Auslegung bedeutet, den „wahren“ Sinn einer Rechtsnorm zu ergründen; dieser soll sich aus der Norm selbst ergeben und
nicht von Interpreten in die Norm hineingetragen werden. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass etwa ein Richter völlig
unbefangen an einen Fall herantritt; seine Wertvorstellungen, Erfahrungsschatz, und sein Weltbild prägen seinen Entscheid.
In Anbetracht dessen setzt eine verantwortungsbewusste praktisch-juristische Arbeit eine Reflexion über die eigene Einstellung
sowie eine offene Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungen voraus.