6.3 Rechtsphilosophie

Die Rechtsphilosophie Kants findet sich in seinem Spätwerk, der Metaphysik der Sitten (1797). Deren erster Teil bildet die „Rechtslehre“, die ein Vernunftrecht enthält. Der Anspruch einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen in Ansehung des Rechts gebietet eine strenge Trennung von empirischer Rechtspraxis (also dem positiven Recht) und dem Recht a priori (dem Vernunft- oder Naturrecht). Um Letzteres geht es in der Rechtslehre. „Rechtslehre“ heisst der Teil des Sittengesetzes, für welchen eine äussere Gesetzgebung möglich ist. Nach Kant ergibt sich die Einteilung der Rechtslehre (ius) in die positive und die natürliche Rechtslehre aus der Verschiedenheit des Frageansatzes. Die positive Rechtslehre fragt, was Rechtens sei (quid sit iuris), die natürliche, was recht sei. Im Umgang mit dem Recht lassen sich vier Rechtskompetenzen unterscheiden: Rechtsgelehrt ist, wer die (positiven) Gesetze kennt, rechtserfahren, wer vertraut ist im Umgang mit dem Gesetz, also über rechtliches Anwendungswissen verfügt, Rechtsklugheit besitzt, wer aufgrund seiner Rechtserfahrung das Recht zur Verbesserung von Glückschancen einzusetzen weiss und über ein in diesem Sinne optimiertes Anwendungswissen verfügt. Schliesslich bleibt der in der (Vernunft-)Wissenschaft vom Recht Kundige. Nur die natürliche Rechtslehre kann Wissenschaft sein. Sie existiert „ohne beides zusammen“, d.h. ohne Rechtserfahrung und ohne Rechtsklugheit. Kants Kriterium für Wissenschaftlichkeit ist hier die Systematizität (vgl. auch Vorrede). Diese kann in Bezug auf das Recht nur von einer philosophischen (nicht-empirischen) Rechtswissenschaft geleistet werden. „Inbegriff der Gesetze“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht bloss eine Menge von Gesetzen, sondern ein Begriff, der die Menge ordnet, sie systematisiert. Der Rechtswissenschaft fällt die Aufgabe zu, die „unwandelbaren Prinzipien“ für das positive Recht zu benennen. Zunächst geht es darum zu verstehen, was „Recht“ ist, also eine Klärung des Rechtsbegriffs. Eine Beantwortung der Frage: „Was ist recht?“ kann – im Rahmen eines Vernunftrechts – nicht auf empirischem Wege beantwortet werden:

„Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus‘ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“ (MdS VI, 230).

Aus dem positiven Recht lässt sich keine Antwort auf die Frage „Was ist recht?“ erlangen wegen des Induktionsproblems (keine Allgemeinheit der Aussage erreichbar). Allerdings räumt Kant ein, dass das positive Recht gewisse Anhaltspunkte für die gesuchte vernunftrechtliche Grundlage bietet („wiewohl ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können“, MdS VI, 230).
Der metaphysische Begriff des Rechts bezieht sich erstens auf äussere Handlungsbeziehungen zwischen mehreren Personen. Nur da, wo Personen miteinander in soziale Interaktionsbeziehungen treten, kann es „Recht“ geben. Zweitens geht es dem metaphysischen Rechtsbegriff um das Verhältnis der Willkür des einen zu der des anderen. Mit der „Willkür“ ist das Vermögen, nach Belieben etwas zu tun sowie das Bewusstsein, dazu in der Lage zu sein, gemeint. So steht es beispielsweise in meiner Willkür, ein Buch zu lesen. Rechtsprobleme ergeben sich nicht da, wo es etwa um blosse Wohltätigkeit geht, auf die kein Anspruch besteht, sondern da, wo auf das Vermögen des anderen eingewirkt wird, Handlungen hervorzubringen (z.B. die Malerarbeiten vorzunehmen, für die ich den Handwerker bezahle). Mit dem zweiten Element des Rechtsbegriffs benennt Kant gleichsam „rechtsanthropologisch“, worauf sich Recht bei Personen bezieht: Recht ist ein Verhältnis zwischen der „Willkür“ des einen und der „Willkür“ des anderen. Es steht z.B. in meiner Willkür, eine fremde Sache wegzunehmen (etwa das Buch, das mein Nachbar auf seinem Sonnenstuhl hat liegen lassen). Hier kommt das Recht ins Spiel: Es steht nämlich in der Willkür des Gesetzgebers, die Rechtssubjekte dazu anzuhalten, fremde Sachen nicht wegzunehmen. Das gesetzliche Diebstahlsverbot, das bei Kant vernunftrechtlich begründet wird, zielt auf meine Willkür. Unter der Voraussetzung von Willkürfreiheit wirkt das Recht auf eben diese Freiheit ein. Dieses Verhältnis der Willküren zueinander besteht, drittens, genauer darin, dass es auf die formale Kompatibilität der Willkür des einen mit der des anderen abzielt. Kant gibt als Beispiel, dass es beim Kauf einer Sache rechtlich unbeachtlich sei, ob die Kaufsache mein Wohl befördert, mir „guttut“. Damit es sich um eine Beziehung nach Rechtsbegriffen handelt, ist lediglich erforderlich, dass die Willkür des Verkäufers mit der des Käufers in Übereinstimmung gebracht werden können, d.h., dass kein Betrug oder sonstiger Zwang vorliegen darf. Der Kantische Rechtsbegriff lässt also Raum für individuelle Zwecksetzungen und ist daher kompatibel mit einem ethischen Pluralismus (Liberalismus). Aus diesen Anwendungsbedingungen des Rechts leitet Kant dann seinen Rechtsbegriff ab, der die Vereinbarkeit individueller Handlungsfreiheit mit der eines jeden anderen nach einem allgemeinen Gesetz zum Inhalt hat. Daraus ergibt sich schliesslich das allgemeine Rechtsgesetz. Dieses tritt in Form eines Imperativs an das Subjekt heran und stellt so den „kategorischen Rechtsimperativ“ (vgl. (Höffe 1999, S. 42)) vor. Der „kategorische Rechtsimperativ“ ist das Sittengesetz in Ansehung des Rechts; er tritt nötigend an das Subjekt heran. Kant stellt fest, dass dieses allgemeine Rechtsgesetz keines Beweises fähig ist, sondern ein Postulat der (praktischen) Vernunft darstellt.
Aus diesem Rechtsgesetz ergibt sich Kants Unrechtsbegriff: Unrecht ist eine Verkürzung meiner Freiheit, die mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen kann. Wenn es Aufgabe der apriorischen Rechtslehre ist, die Bedingungen der Möglichkeit eines äusseren Freiheitsgebrauchs von Menschen aufzuzeigen, dann ist darin die Zwangsbefugnis eingeschlossen: Wenn mein Handeln, d.h. mein Gebrauch äusserer Freiheit, mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen übereinstimmt, dann habe ich zugleich die Befugnis, jede Verkürzung meines rechtmässigen Freiheitsgebrauchs (das Unrecht) abzuwehren. Die Zwangsbefugnis ist also nach Kant analytisch im Rechtsbegriff als „Befugnis zweiter Stufe“ (Otfried Höffe) enthalten. Die Rechtfertigung der Zwangsbefugnis ergibt sich aus einer doppelten Negation: Das Unrecht negiert das Recht, der Zwang negiert das Unrecht und stellt so das Recht wieder her. Es gibt zwei Grenzen des legitimen Zwanges: Erstens muss es sich bei dem Zwang um sekundären, „defensiven“ Zwang handeln, d.h. durch Zwang kann niemals ein „Mehr“ an Rechten erworben werden, sondern nur bestehendes Recht verteidigt werden, und zweitens muss sich der Zwang gerade auf die Wiederherstellung des Rechts gerichtet sein.
Die oben angedeutete Relevanz des kategorischen Imperativs wird nicht nur beim allgemeinen Rechtsgesetz, sondern auch bei den drei fundamentalen Rechtspflichten deutlich, die sich an die eigene Person als (Rechts-)Subjekt wenden. Die erste Rechtspflicht, „sei ein rechtlicher Mensch“, stellt eine innere Rechtspflicht dar. Diese Pflicht verlangt, sich selbst als ein Rechtssubjekt, als Person, zu verstehen, d.h. insbesondere, sich als Träger von Rechten, aber auch als ein der Zurechnung von Handlungen und der Selbstgesetzgebung fähiges Subjekt zu begreifen. Die zweite (äussere) Rechtspflicht, „tue niemandem Unrecht“, kann als Zusammenfassung aller äusseren Pflichten im Verhältnis zu anderen gelten. Interessant ist die Fortsetzung dieser Rechtspflicht: „und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit anderen heraus gehen und alle Gesellschaft meiden müssen“ (MdS VI, 236). Offensichtlich stellt das Verharren in einer nicht rechtlich verfassten oder jedem Recht abschwörenden Gesellschaft (d.h. eine solche, die dem allgemeinen Rechtsgesetz des Rechts zuwider ist; vgl. im Völkerrecht den ungerechten Feind, dazu unten) einen Verstoss gegen diese Rechtspflicht dar. Da für den Menschen das Leben ausserhalb der Sozialität nicht möglich ist, muss die Erfüllbarkeit der zweiten Rechtspflicht durch eine dritte (äussere, abgeleitete) Rechtspflicht abgesichert werden: Wenn die Gesellschaft mit anderen schon nicht vermeidbar ist, dann muss es sich um eine solche handeln, in der „jedem das Seine“ gegen unberechtigte Eingriffe Dritter versichert ist. Die Absicherung meiner Rechte erfolgt im Staat. Einen Staat zu „haben“ ist letztlich nach Kant Rechtspflicht.
Eine Rechtslehre hat „Rechte“ zum Gegenstand. Kant kennt nur ein Menschenrecht, die Freiheit. Es liegt in der Natur der Rechtslehre, deren Gegenstand die äussere Sittengesetzgebung ist, dass nicht der moralische Freiheitsbegriff (Autonomie, Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft), sondern die äussere Handlungsfreiheit gemeint ist. Das angeborene Menschenrecht besteht in dem Recht, nach seinem Belieben zu handeln, sofern die eigene Freiheit mit der eines jeden anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammengedacht werden kann. Zunächst mag verwundern, dass Kant in der Zeit der grossen Menschenrechtskodifikationen („Virginia Bill of Rights“ vom 12. Juni 1776 in Amerika, in Frankreich die „Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen“ von 1789, bereits modifiziert 1793) mit der Freiheit nur ein einziges Menschenrecht nennt. Für Kant folgen die anderen Freiheitsrechte (insbesondere das der Meinungsäusserungsfreiheit), vor allem aber das Gleichheitsrecht aus dem einzigen, ursprünglichen Recht auf Freiheit, das im Bereich des Rechts negativ verstanden wird, nämlich als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (RL VI 237). Aus der Freiheit wird insbesondere die Gleichheit abgeleitet. Die Gleichheit meint Rechtsgleichheit, Statusgleichheit als Rechtssubjekt. Im Kern geht es hier um eine Reziprozitätsbeziehung: Rechtsgleichheit besteht darin, dass niemand mehr (angeborenes) Recht gegenüber einem anderen hat im Vergleich zu jedem anderen.
Im Abschnitt zum „Privatrecht“ entwickelt Kant eine vernunftrechtliche Begründung des Eigentums, das „äussere Meine“. Zugleich enthält das „Privatrecht“ Kants Naturzustandskonzeption. Kants vernunftrechtliche Eigentumsbegründung ist im Einzelnen sehr komplex. Von Bedeutung ist zunächst, dass er die Eigentumsbeziehung nicht zwischen einer Person und einer Sache, sondern interpersonal denkt. Das Privatrecht ist bei Kant die naturrechtliche Gesetzgebung, die zwischen äusserlich unverbundenen, aber sich wechselseitig beeinflussenden Individuen a priori gilt. Innerhalb des Privatrechts unterscheidet Kant noch zwischen dem „inneren Mein und Dein“ und dem „äußeren Mein und Dein“. Das „innere Mein und Dein“ ist das angeborene Recht oder „Menschenrecht“ (dazu s. oben). Das „äußere Mein und Dein“ bildet das Privatrecht im engeren Sinne. Als „äußere Gegenstände meiner Willkür“ nennt Kant Sachen, die Leistung eines anderen (etwa alle synallagmatischen Verträge wie Kauf, Werk- oder Dienstvertrag) oder diese andere Person selbst (in familienrechtlichen Beziehungen). Diese „Gegenstände“ sind nicht ursprünglich mein, sondern sie müssen erworben werden. Bevor jedoch von der Erwerbung die Rede sein kann, muss Kant zeigen, dass die Innehabung (oder der „Besitz“) eines äusseren Gegenstandes als das „Rechtlich-Meine“ möglich ist. Die erste Frage, die ein Privatrecht beantworten muss, ist daher, wie bloss „intelligibler Besitz“, also ein rein rechtliches Innehaben einer Sache möglich ist, wie eine Sache mir zugehörig sein kann, mit der ich äusserlich nicht verbunden bin. Es handelt sich aber – gemäss dem moralischen Rechtsbegriff – nur dann um ein rechtliches Verhältnis, wenn es die Willkür des anderen betrifft. Das Besitzverhältnis besteht für Kant also nicht zwischen mir und der mir gehörenden Sache, sondern zwischen meiner Willkür und der Willkür eines jeden anderen in Ansehung der Sache. So lautet die rechtsphilosophische Frage hinsichtlich des „intelligiblen Besitzes“, wie ein Gegenstand meiner Willkür so das rechtlich Meine sein kann, dass „der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde“ (MdS VI, 245). Die Antwort, die Kant für die Möglichkeit von Privateigentum gibt, kann nicht wirklich befriedigen: Kant geht davon aus, dass jeder äussere Gegenstand zu Eigentum erworben werden kann. Kant begründet dieses Postulat im Wege einer reductio ad absurdum, indem er für den Augenblick das Gegenteil des Postulats annimmt: Es gibt einen Gegenstand meiner Willkür, den ich zu einem an sich herrenlosen machen kann. Die Annahme, ein äusseres Mein sei nicht möglich, ist nicht in Einklang zu bringen mit der formalen Gesetzgebung der praktischen Vernunft, da ja der Gegenstand, der herrenlos bleiben soll, anhand seiner äusseren Beschaffenheit aus der Menge aller Gegenstände herausgehoben werden müsste. Eine formale Gesetzgebung abstrahiert aber gerade von der äusseren Beschaffenheit der Objekte. Es widerspricht also dem Sinn der Gesetzgebung unter Freiheitsgesichtspunkten zu behaupten, die Willkür dürfe einen Gegenstand zu einem an sich herrenlosen erklären. Die praktische Vernunft würde sich in einen praktischen Widerspruch verwickeln, wenn sie sich etwas versagte, was sie an sich vermag. Er formuliert das Postulat, „daß es Rechtspflicht sei, gegen andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine von irgend jemandem werden könne“ (MdS VI, 252). Die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes (zweiter Schritt) kann nicht als solche bewiesen werden, da ihr als Vernunftbegriff keine Anschauung korrespondiere. Die Möglichkeit des intelligiblen Besitzes folgert Kant aus dem Postulat selbst:

„Denn, wenn es notwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln, so muß auch die intelligible Bedingung (eines bloß-rechtlichen Besitzes) möglich sein (MdS VI, 252).“

Das zweite Problem, das Kant im Privatrecht behandelt, ist das der rechtlichen Erwerbung äusserer Gegenstände. Eine solche Erwerbung ist nötig, da die Gegenstände – wie schon gesagt – nicht zum ursprünglich rechtlich Meinen gehören. Es ist Ausdruck der menschlichen Freiheit, jeden äusseren Gegenstand der Willkür erwerben zu können. Der Erwerbungsakt muss so beschaffen sein, dass der Erwerbende ein Allein-, andere ausschliessendes Recht an dem äusseren Gegenstand erwirbt, welches von jedem anderen anerkannt werden muss, um so das rechtliche Mein und Dein unterscheidbar werden zu lassen. Das Kantische Privatrecht stellt damit die Bedingungen der Möglichkeit von Eigentum vor (transzendentale Eigentumstheorie). Die vernunftrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbung äusserer Gegenstände sind die Folgenden: Erstens muss der Erwerber den Gegenstand in seine Gewalt bringen. Die physische Inbesitznahme steht unter dem Vorbehalt, wie er sich aus dem allgemeinen Rechtsgesetz ergibt, d.h. kein In-Gewalt-Bringen gegen die äussere Freiheit anderer. Zweitens muss der Erwerber das Vermögen haben, von dem Gegenstand als Objekt seiner Willkür Gebrauch zu machen. Drittens muss der Erwerber einen rechtmässigen Erwerbswillen haben, der sich im Einklang mit der „Idee eines möglichen vereinigten Willens“ befindet. Hier wird also auf eine Rechtsgemeinschaft in der der Idee hin erworben (dies ähnelt der später im Völkerrecht diskutierten Figur des „als ob“, s. 6.5.).
Der Begriff des Privatrechts bei Kant kann jetzt präzisiert werden als das Recht hinsichtlich des äusseren Mein und Dein in Rechtsbeziehungen einzelner Rechtssubjekte, die in wechselseitigem Einfluss zueinander stehen und gemäss der Idee eines möglichen vereinigten Willens agieren.
Damit ist aber nur die eine Seite des Privatrechts bei Kant behandelt. Das „Privatrecht“ ist nicht nur ein System von Gesetzen, sondern es bezeichnet auch einen rechtlichen Zustand. Der Zustand bloss privaten Rechts wird in der Tradition der politischen Philosophie „Naturzustand“ genannt. Das Besondere am Kantischen Naturzustand ist, dass er – ähnlich wie bei Locke, aber anders als bei Hobbes – als ein rechtlicher gedacht wird, zum einen weil das Individuum mit einem angeborenen Recht ausgestattet ist, zweitens, weil Eigentumserwerb im Naturzustand möglich ist. Dennoch stimmt Kant Hobbes zu, der bekanntlich behauptete, im Naturzustand befänden sind alle im (latenten) Krieg gegen alle (bellum omnium contra omnes). Worin besteht nach Kant der Defekt des Naturzustands, der einen Übergang in den bürgerlichen Zustand (status civilis) notwendig macht? Gefragt ist also nach der Kantischen Version des klassischen exeundum e statu naturali, dem Argument also, weswegen also der Naturzustand verlassen werden muss. Kants Argumentation ist originell und weicht von allen früheren Naturzustandstheorien (insbesondere der Hobbesschen und der Lockeschen) ab. Im Zustande des blossen Privatrechts kann zwar eine vollgültige Erwerbung stattfinden. Da sie aber nur im Hinblick auf einen möglichen vereinigten Willen geschehen kann, der eben noch kein wirklich vereinigter ist, handelt es sich um eine „provisorische“ Erwerbung. Das im Naturzustand erworbene Eigentum ist ein (rechtlicher) Vernunfttitel, den zwar alle anderen anerkennen müssen, sie können zu dieser Anerkennung von dem Eigentümer in Ermangelung einer rechtlichen Zwangsgewalt, die das Recht notfalls gewaltsam durchsetzt, aber nicht verpflichtet werden. Eine rechtmässige Rechtsdurchsetzung kann es nur dort geben, wo es eine austeilende Gerechtigkeit gibt, die in actu zur Anwendung gelangt (MdS VI, 306).
Was heisst es nun, dass der Naturzustand des Privatrechts immer da herrscht, wo sich keine austeilende Gerechtigkeit findet? Die Sicherstellung des „Rechtlich-Meinen“ durch die austeilende Gerechtigkeit erfordert den bürgerlichen Zustand. Diese Sicherstellung hat nach der Idee eines allgemein gesetzgeberischen Willens zu erfolgen und kann daher nur eine öffentliche, keine private sein. Nur eine wirklich existierende austeilende Gerechtigkeit gibt einem die Möglichkeit, den anderen rechtmässig (da im Einklang mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts) und wirksam, da sanktionsbewehrt, zu zwingen, die Rechte des einen anzuerkennen und die Verbindlichkeiten des anderen einzuhalten. Das Kantische Argument des exeundum e statu naturali lautet in der Zusammenfassung dann folgendermassen: Recht ist – gemäss dem moralischen Rechtsbegriff – die Bedingung der Möglichkeit äusserer Freiheit unter Individuen. Zu dieser Freiheit gehört es a priori, Rechtsgüter erwerben und besitzen zu können. Man kann sagen, das Individuum habe a priori ein Recht auf Eigentum. Dieses Recht bleibt aber ein provisorisches, solange die Durchsetzung des Rechts ausschliesslich meiner privaten Willkür überlassen ist. Es ist also ein Mangel des Rechts, nämlich die unsichere Rechtlichkeit seiner Durchsetzung (Rechtsunsicherheit), und nicht ein Mangel der Individuen (etwa ihre Neigung zur Bösartigkeit), der letztlich die Notwendigkeit, in einen bürgerlichen Zustand überzugehen, bedingt. Da die Begründung, den Naturzustand zu verlassen, nicht von anthropologisch fundierten Prämissen getragen wird, sondern durch eine Unvollkommenheit des Rechts bedingt ist, erfolgt sie apriorisch.
Bisher ist nur dargelegt worden, weswegen der Naturzustand (der Zustand des blossen Privatrechts) aus Vernunfterwägungen nicht aufrechtzuerhalten ist. Kant geht aber noch einen Schritt weiter: Er stellt das sog. Postulat des öffentlichen Rechts auf. Dieses richtet sich dezidiert an den Einzelnen und besagt, dass das öffentliche Recht in Kraft zu setzten sei:

„[D]u sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen“ (MdS VI, 307).

Kant unterscheidet drei Arten der Gerechtigkeit, die im Zusammenhang mit den Prämissen dieses Postulats zu sehen sind. Zunächst sollen die Rechte, die jeder hat, durch die distributive Gerechtigkeit sichergestellt werden. Die Gerechtigkeit muss – nach der Idee eines allgemein gesetzgeberischen Willens betrachtet – öffentlich sein (formales Prinzip). Durch die beschützende Gerechtigkeit wird der angeborene und erworbene Besitz (Eigentum) sichergestellt (Bedingung für die Möglichkeit von Eigentum überhaupt). Durch die wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit wird die Wirklichkeit des Eigentums geschaffen. Die austeilende Gerechtigkeit hat die beiden anderen Arten der Gerechtigkeit zur Voraussetzung.
Das Postulat wird durch zwei Prämissen begründet. Die erste Prämisse ist, dass im Naturzustand vorbeugender Rechtszwang erlaubt ist, die zweite gestattet im Naturzustand die Befehdung. Als Begründung für die erste Prämisse kann gesagt werden, dass es der schützenden Gerechtigkeit jedenfalls nicht widerstreitet, wenn im Naturzustand vorbeugender Rechtszwang geübt wird, da der Besitz als Möglichkeit erhalten bleibt:

„(...) es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht“ (MdS VI, 307 f.).

Die Erlaubnis, sich gegenseitig zu befehden, ist der wechselseitigen Gerechtigkeit nicht zuwider, weil Eigentumserwerb gleichwohl möglich bleibt. Nun zerstört der Krieg aller gegen alle aber jegliche Durchsetzungskraft des Rechts. Das zuzulassen, ist höchstes Unrecht. Damit lässt sich allerdings nur begründen, dass der Vorsatz, im Naturzustand zu verbleiben, aufzugeben ist. Das Unterlassen des Unrechts besteht nun aber nicht bloss im Unterlassen eines Vorsatzes, sondern im aktiven Hinwirken auf die prinzipielle Unmöglichkeit des Verübens solcher Unrechtshandlungen. Es ist mithin aktiv auf die Errichtung des bürgerlichen Zustands hinzuarbeiten. Das höchste Unrecht besteht in dem tätigen „Wollen“, im Naturzustand zu verbleiben, das Unterlassen dieses Unrechts muss dann ein tätiges Unterlassen im Sinne einer vorbeugenden Vermeidung sein.
Bei Hobbes war das Gebot, den Naturzustand zu verlassen, eines der Klugheit. Damit taucht unweigerlich die Frage auf, wie die Menschen sind. Im Unterschied dazu ist der Übergang in den bürgerlichen Zustand bei Kant ein Gebot der Vernunft und damit (Rechts-)Pflicht. Der Einzelne hat ein Recht darauf, dass die anderen, mit denen er in unvermeidlichem Kontakt steht, mit ihm in einen bürgerlichen Zustand (status civilis) treten. Dieses Recht ist – wie alles Recht für Kant – mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Der Einzelne kann daher den anderen, der seine Absicht, im Naturzustand bleiben zu wollen, betätigt, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, insbesondere den bereits provisorisch erworbenen Rechtsgütern, zum Eintritt in den Zustand öffentlichen Rechts zwingen. Aus alldem geht hervor, dass in den Zustand des Öffentlichen Recht einzutreten, für Kant eine Rechtspflicht ist.

Frage 38: Welches ist die Aufgabe des Vernunftrechts nach Kant? Wie geht ein Vernunftrecht vor?

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Frage 39: Erläutern Sie die drei Elements des Kantischen Rechtsbegriffs!

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Frage 40: Wie begründet Kant, dass das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist?

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Frage 41: Kennt Kant „Menschenrechte“?

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Frage 42: Wie begründet Kant die Notwendigkeit des Instituts des Privateigentums?

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Frage 43: Was ist das Besondere an der Kantischen Naturzustandskonzeption im Unterschied v.a. zu Hobbes?

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Frage 44: Wie lautet die Begründung Kants, dass der Naturzustand zu verlassen sei?

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