4.3.5 Eigentum und Arbeit
Eine Besonderheit in Lockes Theorie ist der weite Eigentumsbegriff. Lockes Eigentumsbegriff bezieht sich nicht nur auf äussere Gegenstände, sondern auch auf die Person selbst, d.h. der Mensch
hat die Verfügungsgewalt über seine eigene Person (vgl. TTG II 173, 310). In heutiger Terminologie würde man den personenbezogenen
Aspekt des Eigentums eher als „Recht auf Privatheit“ oder als „Recht auf Selbstbestimmung der Person“ bezeichnen. Zu beachten
ist natürlich, dass die Selbstbestimmung bei Locke nicht in der Weise fundamental gedacht wird wie später bei Rousseau und
vor allem bei Kant. Selbstbestimmung findet bei Locke im Wesentlichen im ökonomischen Kontext statt, insofern handelt es sich
bei ihm um eine Philosophie des liberalen Wirtschaftsbürgertums. Die uns ungewöhnlich erscheinende Behauptung eines Eigentumsanspruchs
an der eigenen Person ist zum einen historisch zu erklären: In einer Zeit, die Sklaverei nicht prinzipiell ablehnt, ist der
Anspruch auf ‚Selbstregierung‘ der eigenen Person nicht selbstverständlich. Zum anderen dürfte auch Lockes Absolutismuskritik
eine Rolle spielen: Der absolute Herrscher begibt sich gegenüber seinen Untertanen in den Natur- bzw. Kriegszustand. Er missachtet
das Recht des Einzelnen an seiner Person. Da das Eigentumsrecht als ein besonders „sichtbares“ Recht gilt, tritt der Rechtswiderspruch
absoluter Herrschaft damit nur noch klarer hervor. Schliesslich kann man auch darauf hinweisen, dass Locke in der Zeit des
beginnenden europäischen Kapitalismus schreibt. Übergriffe in das „Eigentum“ (v.a. des aufstrebenden Bürgertums) riefen daher
tendenziell eine starke Empörung hervor. Die besondere Eingriffsfestigkeit des Eigentumsrechts wird auch daran deutlich, dass
es sich um ein vorstaatliches Recht handelt. Der Staat dürfe zwar Regelungen zum Eigentum erlassen, aber keinem Menschen einen
Teil seines Eigentums ohne dessen Zustimmung wegnehmen (TTG II 138f., 288f.). Bei Locke ist die Existenz von Eigentum nicht
an die Existenz von Staatlichkeit gebunden.
Das Kapitel über das Eigentum im zweiten Traktat behandelt ausführlich den Eigentumserwerb (an äusseren Gegenständen). Dass ein Eigentumserwerb durch eine Person (mit der Folge des Ausschlusses aller anderen) möglich
sein muss, steht für Locke ausser Zweifel. Er begründet dies mit der religiösen Vorstellung einer Übertragung der Welt zur
Nutzung durch die Menschen (TTG II 26, 216). Die göttliche Übertragung zu Nutzungszwecken impliziert für Locke die Möglichkeit
der Sachaneignung durch den Einzelnen. Hinzu kommt das neue Argument der Selbstbestimmung: Eigentum ist möglich, weil der
Mensch „Herr seiner selbst“ sei und „Eigentum“ an seinen Handlungen habe (TTG II 44, 227). Locke hätte als weiteres, nicht-theologisches
Argument auch vorbringen können, dass die Möglichkeit des Eigentums zur Selbsterhaltung des Einzelnen notwendig ist.
Locke vertritt eine Theorie des Arbeitseigentums, d.h. der Mensch erwirbt Eigentum an Gegenständen, die er „mit seiner Arbeit
gemischt“ hat:
Lockes Eigentumserwerb stellt auf die Umschaffung der Welt ab, einen Kultivierungsakt durch den Menschen. Als Beispiele gibt
Locke an, dass Eigentum bereits durch das Aufsammeln von Äpfeln, die der Mensch von den Bäumen des Waldes abpflücke, entstehe
oder durch das Stechen von Erz an irgendeiner Stelle (TTG II 28, 217).
Bemerkenswert an Lockes Theorie ist, dass dem Eigentumserwerb Grenzen gezogen werden: Der Einzelne darf nur so viel erwerben,
als es für alle genügend gebe (sog. sufficiency clause) und so viel er selbst nutzen kann (sog. spoilation clause) (TTG II 28, 217; II 31, 219). Hier werden einem schrankenlosen Erwerbswillen angesichts knapper natürlicher Ressourcen enge
Schranken gezogen. Wichtig ist, dass der einzelne Erwerbsvorgang insoweit einen impliziten Gemeinwohlbezug hat. Der soziale
Bezug ist implizit, weil die ausdrückliche Zustimmung des anderen beim Eigentumserwerb gerade nicht notwendig ist (TTG II,
28, 217).
Lockes Theorie des Arbeitseigentums ist mehreren Einwänden ausgesetzt: Erstens ist der Tatbestand der „Vermischung mit eigener
Arbeit“ unklar, denn er lässt offen, was die Kriterien für die Vermischung sind. Berühmt ist Robert Nozicks Rückfrage, ob
man denn Eigentümer werde, wenn man ein Glas Tomatensaft in den Ozean schütte (Nozick 1974, S. 175 f.). Während man den „Eigentumserwerb“ durch Verzehr der Äpfel als „Vermischung“ mit dem eigenen Körper noch nachvollziehen kann,
wird es beim Stechen des Erzes schon schwieriger. Hier muss Locke auf die Konzeption des ursprünglichen Gesamteigentums zurückgreifen:
Der göttliche Übertragungsakt versetzt die Menschen in eine Rechtsgemeinschaft im Hinblick auf die Erde und ihre Früchte.
Ein zweiter Einwand kritisiert, dass das Gemeinwohlelement des Eigentumserwerbs nicht hinreichend spezifiziert wird: Muss
der Einzelne bei seinen Erwerbshandlungen dem anderen das Überlebensnotwendige belassen oder muss er auch dessen Luxusansprüche,
die sog. expensive tastes, berücksichtigen? Die Verpflichtung aus dem Naturgesetz zur Achtung vor dem berechtigten Selbsterhaltungsanspruch des anderen
spricht wohl eher für die Minimalvariante.
Ein weiterer Einwand geht dahin, dass trotz der Sozialverträglichkeitsverpflichtung grosse materielle Ungleichheiten zugelassen
werden: Anders als für „Nahrung, Kleidung und Transportmöglichkeiten“ gelte die Sozialverträglichkeitsverpflichtung für den
Gelderwerb nicht:"Da aber Gold und Silber, die im Verhältnis zu Nahrung, Kleidung und Transportmöglichkeiten für das Leben
des Menschen von geringem Nutzen sind,ihren Wert nur von der Übereinkunft der Menschen haben, ... ist es einleuchtend, daß
die Menschen mit einem ungleichen und unproportionierten Bodenbesitz einverstanden gewesen sind. Denn sie haben durch stillschweigende
und freiwillige Zustimmung einen Weg gefunden, wie ein Mensch auf redliche Weise mehr Land besitzen darf, als er selbst nutzen
kann, wenn er nämlich als Gegenwert für den Überschuss an Produkten Gold und Silber erhält ... . Diese Verteilung zu einem
ungleichen Privatbesitz haben die Menschen ... nur dadurch ermöglicht, dass sie Gold und Silber einen Wert beilegten und stillschweigend
in den Gebrauch des Geldes einwilligten“(TTG II 50, 230). Hier spricht aus Locke wieder der bürgerliche Kapitalismus. Nur
am Rande ist zu bemerken, dass Locke selbst einen nicht unerheblichen Teil seines Vermögens durch Geldgeschäfte gemacht hat
(Euchner 1998, S. 19).
Ein vierter Einwand kritisiert, dass aus dem einseitigen, tatsächlichen Akt des Umbildens von Welt noch keine Verpflichtungen
anderer folgen könnten, zumal der einzelne Erwerbsakt an keinerlei Zustimmung durch die anderen gebunden ist.
Ein fünfter Einwand kann schliesslich in Bezug auf die Gewichtung des Eigentums bei Locke gemacht werden. So wird nicht klar,
wieso ein militärischer Vorgesetzter zwar über Leben und Tod des Soldaten, nicht aber über dessen Eigentum befinden dürfe
(vgl. TTG II 139, 289).
Frage 22: a) Was versteht Locke unter Eigentum?, b) Wie wird Eigentum erworben?, c) Welche Einwände lassen sich gegen Lockes Eigentumstheorie anführen?
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