5.3 Gemeinwille und Gemeinwohl: Der „Contrat social“ (1762)

Der Beginn des „Contrat social“ ist für seine Interpretation aufschlussreich. Dort heisst es:

„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können“ (GV I:1, 5).

Zunächst überrascht, dass Rousseau abstreitet, eine Erklärung für den Wandel der Freiheit zur Unfreiheit zu haben. Hatte er nicht selbst im „Diskurs über die Ungleichheit“ diese Entwicklung beschrieben? Jedenfalls will er sich dem Thema im „Contrat social“ aus normativer Perspektive nähern. Es geht ihm hier um Legitimation („Rechtmässigkeit“) von Herrschaft. Im „Diskurs über die Ungleichheit“ hatte Rousseau dargelegt, inwiefern der Mensch von Natur aus „frei“ ist. Entscheidend für den weiteren Argumentationsgang ist ein anspruchsvollerer Freiheitsbegriff im „Contrat“ gegenüber dem zweiten Diskurs. Das Gegenbild der Freiheit, das Rousseau in diesem ersten, berühmten Zitat entwirft, ist das der Sklaverei. Der Sklave ist unfrei, weil er nicht sich selbst, sondern einem anderen gehorcht. Verstand Rousseau „Freiheit“ im „Diskurs über die Ungleichheit“ noch ganz im Sinne von Hobbes als Handlungsfreiheit, so liegt dem „Contrat social“ ein deutlich ambitionierterer Begriff zugrunde:

„Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt. (...) Man könnte nach dem Vorhergehenden zum Erwerb des bürgerlichen Standes noch die sittliche Freiheit hinzufügen, die allein den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht; denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit“ (GV I:8, 22 f.)

Die Bestimmung der Freiheit als Willensfreiheit hat enorme Folgen für eine Vertragstheorie der Herrschaftsbegründung: „Freiheit“ setzt voraus, dass das Individuum nur selbstgegebenen Regeln folgt. In diesem Fall reicht es nicht mehr aus, dass im Staatszustand alle äußeren Behinderungen der Freiheit seitens anderer Individuen beseitigt oder unmöglich gemacht werden durch einen absoluten Souverän (wie bei Hobbes), sondern der Staatszustand hat diesem anspruchsvollen Freiheitskonzept der Selbstgesetzgebung zu genügen. So wird die berühmte Formulierung, die Rousseau der kontraktualistischen Fragestellung gibt, deutlich:

„Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (GV I:6, 17).

Da die Argumentationslast im „Contrat social“ von dieser anspruchsvollen Willensfreiheit getragen wird, ist für Rousseau ein Eingehen auf den Naturzustand selbst nicht mehr erforderlich. Im Unterschied zum zweiten Diskurs wird der Naturzustand kaum noch erwähnt (vgl. aber GV I:6, 16 ff.). Jedenfalls dient seine Verfasstheit nicht mehr der Argumentation zur Staatslegitimation. Die Figur des Naturzustands hat im „Contrat social“ lediglich die Funktion, die rechtliche Form des Übergangs zum gesellschaftlichen Zustand als notwendig herauszustellen.

„Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen“ (GV I:4, 10).

Der gesellschaftliche Zustand lässt sich m.a.W. nicht anders als durch Vertrag herstellen, er ist ein künstliches Werk und entspringt nicht etwa einem göttlichen Ordnungsplan oder der Natur selbst. Die Bedingungen des Gesellschaftsvertrags hält Rousseau für diesem immanent; sie sind apriorisch in der Natur dieses Vertrags begründet.

„Die Bestimmungen dieses Vertrages sind durch die Natur des Aktes so vorgegeben, daß die geringste Abänderung sie null und nichtig machen würde (…)“ (GV I:6, 17).

Es muss daher gezeigt werden, dass sich die Vertragsbestimmungen ergeben aus der – von Rousseau im „Contrat social“ nicht näher ausgeführten – Ausgangslage des Naturzustands. Dazu gehören, wie er im „Diskurs über die Ungleichheit“ gezeigt hat, folgende Elemente: physische Ungleichheit der Menschen, natürliche Freiheit und eine unzureichende eigene Mittelausstattung angesichts sich verändernder Lebensbedingungen (z.B. Naturkatastrophen). Rousseau unterschlägt freilich die Begründung, wie aus diesen Prämissen die Bedingungen des Gesellschaftsvertrages folgen. Wieso soll die physische Ungleichheit der Menschen, etwa die des Stärkeren, in der Ausgangslage des Vertragsschlusses sich nicht niederschlagen in einer verbesserten Vertragsposition? Wieso nimmt Rousseau an, dass der Starke auf seine Position verzichtet? Entweder setzt die Begründung zusätzliche anthropologische Annahmen voraus (etwa die einer schwachen Moralität, wie z.B. den oben beschriebenen Rechtszweifel der Reichen beim „Betrugsvertrag“, aber auch die Erfahrung der Wandelbarkeit der eigenen Stärkeposition), oder aber es handelt sich an dieser Stelle weniger um eine Begründung des gesellschaftlichen Zustands als vielmehr um seine „Plausibilisierung“.
Der Gesellschaftsvertrag bei Rousseau ist inhaltlich ein „Rechtsentäusserungsvertrag“:

„Diese Bestimmungen [des Gesellschaftsvertrages, Verf.] lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung (aliénation totale) jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. Denn erstens ist die Ausgangslage, da jeder sich voll und ganz gibt, für alle die gleiche, und da sie für alle gleich ist, hat keiner ein Interesse daran, sie für die anderen beschwerlich zu machen. (…) kein Mitglied hat mehr etwas zu fordern“ (GV I:6, 17).

Rousseau denkt den Einschnitt durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrages radikaler als beispielsweise Hobbes und später Kant. Der Mensch gibt nicht nur seine äussere Handlungsfreiheit auf (wie bei Hobbes), sondern ausdrücklich alle Rechtspositionen, wozu man auch Besitz an äusseren Gütern zu zählen hat.

„Jedes Glied überantwortet sich der Gemeinschaft in dem Augenblick, in dem sie sich bildet, so, wie es sich gerade befindet – sich und alle seine Kräfte, wozu auch die Güter gehören, die es besitzt“ (GV I:9, 23).

Für Rousseau ist wichtig, dass im Vertragsschluss eine Situation völliger rechtlich-ökonomischer Gleichheit aller herrscht. Hintergrund ist, dass er im zweiten Diskurs dargelegt hatte, wie sich aus der Ungleichheit allmählich die Unfreiheit der Individuen entwickelt (dazu s. oben 5.1). Die Gleichheitsbedingung muss also um der Freiheit willen gefordert werden. Dies schliesst allerdings nicht aus, dass es später im bürgerlichen Zustand zu rechtmässiger Ungleichheit kommt.
Rousseau vertritt eine Eigentumstheorie der ersten Besitznahme (GV I:9). Entscheidend für die Rechtmässigkeit des Besitzes ist aber die Rückbindung an den Gemeinwillen. Damit ist das Eigentumsrecht inhaltlich aber auch nicht staatsfest, sondern ist ganz der Disposition des Gemeinwillens unterworfen (vgl. (Kersting 2002, S. 139)).
Durch den Akt des Gesellschaftsvertrages entsteht der Staat, den Rousseau als „öffentliche Person“ denkt, die aus ihren individuellen Gliedern besteht, zugleich aber auch eine von den Einzelnen zu unterscheidende Einheit mit einem eigenen Willen bildet.

„Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluß aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen“ (GV I:6, 18 f.).

Die berühmte Unterscheidung des Gesamtwillens („volonté de tous“) und des Gemeinwillens („volonté générale“) dient der normativen Bestimmung der richtigen Staatswillensbildung. Jeder Mensch hat seinen Sonderwillen („volonté particulière“), der sich auf das je eigene Interesse richte. Folgen wir allein diesem Sonderwillen, sind wir Sklaven unserer jeweiligen Begierden und damit nicht wirklich frei, wie oben dargestellt wurde. Die Summe der Sonderwillen nennt Rousseau den Gesamtwillen. Das Problem des Gesamtwillens ist, dass er (zufälligen) Sonderinteressen bestimmter Fraktionen und Gruppen der Gesellschaft dient und damit nicht über die notwendige Allgemeinheit verfügt. Die Herrschaft durch einen Partikularwillen ist, wie gesehen, mit Rousseaus Freiheitsverständnis als Selbstgesetzgebung jedes Einzelnen nicht kompatibel. Der Staat muss daher vom wahrhaft allgemeinen Willen gelenkt werden, der auf das Gemeinwohl gerichtet ist. Diesen nennt Rousseau den Gemeinwillen („volonté générale“). Hier stellen sich vier Fragen:
(1) Was ist der Gemeinwille? Der Gemeinwille ist der Wille der sittlichen Gesamtkörperschaft, insofern er sich auf das Allgemeinwohl richtet. Der Gemeinwille manifestiert sich in allgemeinen Gesetzen. Der Gemeinwille kann nicht irren, nicht falsch sein (GV II:3). Er ist ein transzendentaler Wille, indem er die Bedingung der Möglichkeit gerechter Gesetze ist.
(2) Welche Funktion hat die Figur des Gemeinwillens in Rousseaus Staatsphilosophie? Die Figur des Gemeinwillens ist Rousseaus Lösung für das Freiheitsproblem. Indem der Einzelne dem Gemeinwillen folgt, bleibt er frei.
(3) Wie wird der Gemeinwille erkannt (Erkenntnisproblem)? Das Erkenntnisproblem besteht darin, dass Rousseau zwar Bedingungen für die Bildung des Gemeinwillens (Allgemeinheit des Inhalts, Allgemeinheit des Beteiligungsrechts an der Willensbildung, Bürgersinn) angibt, aber kein Kriterium, mittels dessen sich der Gemeinwille von anderen unterscheiden liesse. Gesamtwille und Gemeinwille können zusammenfallen, sind aber nicht zwangsläufig identisch. Das Abstimmungsverfahren der Bürger ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erkenntnis des Gemeinwillens (vgl. GV II:4, 33); Rousseau ist kein moderner Prozeduralist (vgl. (Kersting 2002, S. 134 ff.)). Vielmehr muss der Gemeinwille in der substantiell gedachten Sittlichkeit der Bürger gründen; er ist eine transzendentale Leitschnur für gerechte Gesetze. Damit macht Rousseau das Problem der Staatswillensbildung und der gerechten Gesetze zu einem Problem der ethischen Bildung und Erziehung der Bürger.
(4) Wie wird sichergestellt, dass der Gemeinwille befolgt wird (Motivationsproblem)? Rousseau ist hier ganz deutlich: Wer dem Gemeinwillen nicht folgt, bleibt insofern im Naturzustand und verstrickt sich in einen performativen Widerspruch: Man kann nicht den Gesellschaftsvertrag wollen und dem Gemeinwillen nicht folgen wollen. Den Gemeinwillen zu verfehlen stellt eigentlich keine Willens-, sondern eine Erkenntnisschwäche des Einzelnen dar. Daher ist die Gemeinschaft berechtigt, gegen Abweichler Zwang zu üben.

„Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein“ (GV I:7, 21).

Das dritte Buch des „Contrat social“ enthält Rousseaus Theorie der Regierungsgewalt. Der Gemeinwille ist seinem Wesen nach beschränkt auf allgemeine Inhalte. Nur das Allgemeine ist gesetzestauglich. Die politische Praxis besteht aber aus Einzelakten. Daher, so Rousseau, kann die Exekutive nicht bei der Allgemeinheit liegen,

„weil diese Gewalt [die Regierungsgewalt, Verf.] nur aus einzelnen Akten besteht, die in keiner Weise in den Bereich des Gesetzes und folglich auch nicht in den des Souveräns fallen, dessen Akte alle nur Gesetze sein können“ (GV III:1, 61 f.).

Wenn also der Gemeinwille verwirklicht werden soll, bedarf es einer Regierung als ausführender Instanz. Es gilt zu bemerken, dass Rousseau mit dem Gemeinwillen zwar die Notwendigkeit einer Regierung überhaupt vorgegeben wissen will, nicht aber eine bestimmte Regierungsform (wie Demokratie, Aristokratie etc.). Rousseaus Begriff der „Regierung“ ist einerseits umfassender als das heutige Verständnis von Exekutive, indem nämlich bei ihm – ohne dass dies von Rousseau ausgeführt wird – auch die Judikative erfasst ist, zum anderen ist der Begriff enger, da eine exekutivische Rechtssetzung, die über eine Einzelfallregelung hinausgeht (wie etwa Verordnungen), nicht in die Kompetenz einer Regierung in Rousseaus Sinne fällt. So gibt Rousseau folgende Definition: Die Regierung ist eine

„vermittelnde Körperschaft, eingesetzt zwischen Untertanen und Souverän zum Zweck des wechselseitigen Verkehrs, beauftragt mit der Durchführung der Gesetze und der Erhaltung der bürgerlichen wie der politischen Freiheit“ (GV III:1, 62).

Die Regierung als politische Körperschaft nennt er auch „Fürst“ („prince“). An dieser Definition ist von besonderer Bedeutung, dass Rousseau – für die damalige Zeit sicherlich revolutionär – klar zwischen Souverän (als gesetzgebender Körperschaft) und Regierung (als gesetzanwendender Körperschaft) unterscheidet. Dass die Gesetze von allen Bürgern erlassen werden, ist für Rousseau aufgrund seiner Konzeption des Gemeinwillens selbstverständlich.

Frage 26: Wie begründet Rousseau im „Contrat social“, dass der Ausgang aus dem Naturzustand nur durch einen rechtsförmigen Vertrag geschehen könne?

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Frage 27: Erklären Sie den Unterschied zwischen dem Freiheitsbegriff bei Hobbes und dem bei Rousseau! Stellen Sie eine Verbindung zur Grundrechtsdogmatik her, gehen Sie dabei auch auf Unterschiede ein.

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Frage 28: Ist ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren ausreichend zur Ermittlung des Gemeinwillens im Sinne Rousseaus?

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Frage 29: Inwiefern ist Rousseaus Konzeption einem Totalitarismusvorwurf ausgesetzt?

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