5.1.2 Rule of Law & Rechtsstaat

Es liegt wohl an den "Eigenarten" des britischen Verfassungsverständnisses – an der Vielzahl seiner Quellen sowie seiner unkodifizierten Natur (vgl. VGN, S. 78) –, dass es sich nicht gerade als Rezeptionsstoff anbietet.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass man nicht von einer Rezeption des Konzepts der Rule of Law in der Schweiz sprechen kann, wenn auch Elemente dieses Begriffs durchaus in der Verfassungsordnung der BV von 1848 zu finden sind. Dies hat hauptsächlich damit zu tun, dass die Idee des Rechtsstaates, die im deutschsprachigen Rechtsraum vorherrscht, mit der anglo-amerikanischen Rule of Law nicht deckungsgleich ist.

Gegenüberstellung: Ein rechtstheoretischer Exkurs

Die beiden Begriffe stehen sich insoweit nahe, als dass sie im weitesten Sinne das Verhältnis zwischen Staat und Recht – die Institutionalisierung einer Rechtsordnung – zum Gegenstand haben. Dieses Verhältnis fassen sie aber sehr unterschiedlich auf:

Der Rechtsstaatsbegriff knüpft das Recht begriffsnotwendig am Staat an, und zwar als einzig legitimes Mittel zur Ausübung staatlicher Macht. Die englischsprachige Literatur übersetzt demnach in der Regel den Begriff "Rechtsstaat" mit der Phrase "state rule through law", und nicht mit "rule of law".

Im Kontext der Rule of Law hingegen gehen Staat und Recht gerade nicht Hand in Hand: Die Die Rule of Law wird angesehen als Ausfluss von Normen, welche vor- und überstaatlich sind und jederzeit gegen den Staat ins Feld geführt werden können, wenn dieser sich im Widerspruch zu jenen Normen verhält.

Hintergrund für diese Divergenz sind wohl letztlich die unterschiedlichen Grundhaltungen des anglo-amerikanischen common law und seines kontinentaleuropäischen Pendants (engl.: "civil law"). Das common law ist massgeblich beeinflusst von der Locke'schen Tradition der "inalienable natural rights", welche dem Staat vorgehen und wird von einem kasuistischen Ansatz beherrscht. Das civil law hingegen ist bestimmt durch die Anwendung von staatlich gesetztem Recht.

An dieser Stelle ist auf Diceys drittes Element seiner Rule of Law hinzuweisen (vgl. oben 2.1.2/c]). Dicey entfaltete den Begriff der Rule of Law nämlich bewusst im Kontext des common law, sieht er doch dieses System geradezu als begriffsnotwendig für die Rule of Law an.

Während Diceys Rule of Law äusserst formalistisch geprägt ist, sind dem deutschen Rechtsstaatsbegriff (nach heutigem Verständnis des deutschen GG) nebst formalen Elementen auch solche materieller Natur inhärent: Der formelle Rechtsstaat anerkennt Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Gesetzmässigkeit staatlichen Handelns, Rechtsschutz gegen staatliche Akte etc. In seiner "reinen" Ausprägung ist ihm jegliche Ausrichtung der Gesetze an einer höheren Normenordnung fremd. Der materielle Rechtsstaat hingegen gewähreistet (nebst den genannten formalen Elementen) diese Ausrichtung inhaltlich und sichert sie ab durch Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung sowie durch die Normierung von Grundrechten.

Die Zuwendung des deutschen GG zu sowohl formellen als auch materiellen Bestandteilen des Rechtsstaatsbegriffs ergibt sich insbesondere aus den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 und 79 Abs. 3 GG.

Auch der Rule of Law werden übrigens in jüngerer Zeit vermehrt formale Elemente zugeschrieben, nämlich unter dem Begriff der "substantive" bzw. "thick" Rule of Law – im Gegensatz zu den "formal/thin conceptions", zu denen wohl Diceys Ansatz zu zählen ist.

Der Wandel des Rechtsstaatsbegriffs

Ein Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass dem Rechtsstaat keineswegs seit jeher dieses materielle Verständnis zugeschrieben wird:

Als Robert von Mohl 1829 den Begriff des Rechtstaates in die Staatsrechtslehre einführte, fasste er diesen auf als "Verstandesstaat"; als Staat, regiert nach dem vernünftigen Gesamtwillen. Als solcher ist er auf die Aufklärungsphilosophie und insbesondere Kant zurückzuführen. Politisch war aber Kants Ansatz nicht durchsetzbar aufgrund der starken Stellung, welche den monarchischen Regimes des Deutschen Bundes im Zuge des Wiener Kongresses 1815 eingeräumt wurde. Das Misslingen der Revolution von 1849 hatte entscheidenden Einfluss auf den Begriff des Rechtsstaats, der nun zunehmend auf formelle Elemente reduziert wurde. Der Aufstieg des Rechtspositivismus trieb diese Entwicklung auf die Spitze: Die Rechtsstaatlichkeit war nun dem "minimalistischen" Legalitätsprinzip gleichgesetzt.

So ist nach Kelsen jeder Versuch, den Rechtsstat zu legitimieren, "völlig untauglich", da voraussetzungsgemäss "jeder Staat ein Rechtsstaat" ist. Wer nur in jenem Staat, der gewisse normative, wertende Voraussetzungen erfüllt, einen Rechtsstaat erblickt, unterliege einem "naturrechtlichen Vorurteil" (Kelsen, S. 126 f.).

Erst die Erfahrung des dritten Reiches zeigte auf, dass an einem rein formellen Rechtsstaatsbegriff nicht mehr festzuhalten ist. Resultat dieser Erkenntnis wurde der materielle Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes von 1949, welches materielle Prinzipien und Werte der positiven Legalität voranstellt.

Der Rechtsstaat in der Schweiz

Es ist naheliegend, dass die Schweiz als Civil-Law-System bei der Gründung des Bundestaates eher auf die deutsche Rechtsstaatsidee abstellte als auf die britische Rule of Law. Die folgenden Ausführungen lehnen sich an Werner Kägis Analyse der Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaats an (ZSR 71 [1952] S. 173 ff). Kägi geht dabei von einem "umfassenden" Rechtstaatsbegriff aus, welchem er folgende Elemente zuschreibt:

  1. Rechtliche Legitimation staatlicher Macht (mittels einer Verfassung)
  2. Rechtliche Begrenzung staatlicher Zuständigkeit (Grundrechte)
  3. Das Prinzip der Gleichheit
  4. Gewaltenteilung
  5. Das Legalitätsprinzip
  6. Qualifizierter Rechtsschutz
  7. Rechtliche Verantwortlichkeit des Staates
  8. Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die Gerechtigkeit
  9. Demokratische Rechtssetzung

Der Rechtsstaat wird bei Kägi explizit als "Inbegriff formaler und materialer Postulate" gesehen (vgl. insbesondere die Begriffselemente 2, 8 und 9). Als solcher stellt die Rechtsstaatsidee ein "abendländisches Ideal" dar; ein Mosaik, zusammengesetzt aus Beiträgen der englischen Rule of Law, der Philadephia Convention und der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court, der "werbenden" Kraft des revolutionären Frankreichs und der "grosse Linie" des christlichen Rechts- und Staatsdenkens. Entstehung und Entwicklung dieses Mosaiks sieht Kägi begründet in einem wechselseitigen Geben und Nehmen über die Landesgrenzen hinweg. Die Rezeptionen dieser fremden Ideen waren in der Schweiz aber auch nur deshalb möglich, "weil die eigene Geschichte wichtige Fundamente gelegt hatte" dafür.

Inwiefern, fragt Kägi in der Folge, lassen sich ab 1848 in der Schweiz die oben genannten Postulate des Rechtsstaats erkennen?

BV 1848

Motivation für die Schaffung der BV 1848 war nicht in erster Linie das rechtsstaatliche Ideal, sondern vielmehr das die Erhaltung und Festigung der Existenz der Eidgenossenschaft. Kägi qualifiziert die BV als "nüchternen Zweckbau", dem der "äussere Glanz und das hohe Pathos der Freiheit und des Rechtes" abgeht; auch in den Diskussionen der Tagsatzungskommission war weniger die Rede von den grossen Idealen, welche etwa in den USA und in Frankreich die Debatten um die Verfassungsgebung bestimmten.

Obwohl die BV 1848 eine Grundentscheidung zugunsten der Freiheit des Individuums darstellte, fehlt eine umfassende Erklärung der Menschenrechte und die Auswahl der Grundrechte scheint "eher zufällig" zu sein.

Die Rechtsgleichheit wurde an prominenter Stelle verankert (Art. 4) und in weiteren Normen (Art. 41 Ziff. 4; 42; 48) konkretisiert. Allerdings erfuhr dieses Prinzip z.T. erhebliche Einschränkungen (vgl. Art. 48).

Das Legalitätsprinzip war grundsätzlich anerkannt: Die Grundverhältnisse (Gewaltenteilung; Bund–Kantone; Staat–Bürger sowie zwischen den Kantonen) z.B. konnten nur via ordnungsgemässer Verfassungsrevision (Art. 111 ff.) abgeändert werden. Die Formeln des "Vorbehalts des Gesetzes" bzw. "Vorrangs des Gesetzes" würde die Lehre in den Folgejahren entwickeln.

Die Verantwortlichkeit des Staats fand seinen Niederschlag in Art. 110 und wurde bald konkretisiert im Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit der eidg. Behörden und Beamten vom 9. Dezember 1850.

Weniger ausgeprägt waren hingegen die Gewaltenteilung und der qualifizierte Rechtsschutz, und zwar aufgrund des Übergewichts der Bundesversammlung (vgl. Art. 60) und der Abwesenheit eines "Hüters der Verfassung" in Form eines Verfassungsgerichts. Ein schwacher Ansatzpunkt zur Verfassungsgerichtsbarkeit war zwar in Art. 105 angelegt, allerdings war sie gebunden an die Voraussetzung der Überweisung an das Bundesgericht durch die Bundesversammlung. Bezeichnenderweise fand eine solche Überweisung zwischen 1848 und 1874 nur ein einziges Mal (!) statt. Diese Gestaltung des Verhältnisses der Staatsgewalten stellt gewissermassen die Behauptung des demokratischen Prinzips gegenüber dem rechtsstaatlichen dar.

Aus diesen Erkenntnissen schliesst Kägi, dass die formale Gestaltung des Rechtsstaates von 1848 in mehrfacher Hinsicht mangelhaft war.

Entwicklung unter der BV 1874

Im Zuge der Partialrevision von 1866 und insbesondere der Totalrevision von 1874 verbesserte sich die Gewährleistung der Grundrechte massgeblich. Die Beschränkung einiger Bestimmungen auf Angehörige christlicher Konfessionen wurde aufgehoben; neue Freiheitsrechte wurden ergänzt (Glaubens- und Gewissensfreiheit, Ehefreiheit sowie Handels- und Gewerbefreiheit). Des Weiteren wurde die Konkretisierung der Grundrechte vorangetrieben, indem diese Aufgabe mehr und mehr dem Bundesgericht übertragen wurde.

Diese grundsätzliche Durchsetzung der Idee der Freiheitsrechte sollte aber bald schon konkurriert werden durch den Aufstieg der Idee des Wohlfahrtstaates. Das Streben nach Freiheit wurde, so Kägi, durch das Streben nach Sicherheit abgelöst – insbesondere in der Zwischenkriegszeit sei eine Abwertung der Freiheitsrechte festzustellen (vgl. auch Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts, §4 IV, §10 III).

War die Rechtsgleichheit 1848 noch lediglich im Sinne einer Grundnorm der Demokratie (Gleichheit der politischen Rechte) aufgefasst worden, kam es nach 1874 durch das Bundesgericht zur Entfaltung eines rechtsstaatlichen Sinns (Gleichheit als ein die ganze Rechtsordnung beherrschendes Prinzip) des Art. 4.

Das in der BV 1848 verankerte Schwergewicht auf der Bundesversammlung, und somit der Gehalt der Gewaltenteilung, verschob sich ab 1874 in zwei Schritten markant: Erstens verstärkten sich die Positionen der Judikative und der Exekutive, sodass von einer Annäherung an das Ideal des Gleichgewicht der Gewalten gesprochen werden kann. In der zweiten Phase der Entwicklung, ausgelöst durch die (nach wie vor aktuelle) Ausweitung und Zentralisierung der Staatsaufgaben, ist gar ein Übergewicht der Exekutive festzustellen.

War das Legalitätsprinzip als "Vorbehalt des Gesetzes" bzw. "Vorrang des Gesetzes" unter der BV 1848 noch vollständig bewahrt, hat die Verfassung aufgrund der Revisionen 1866 und 1874 eine Abwertung erfahren. Diese Abwertung hat sich im 20. Jh. weiter verstärkt (Stichwort: Notrecht). Aus demselben Grund ist auch eine Ausweitung der Gesetzgebungskompetenz über die Legislative hinaus festzustellen. Darin sieht Kägi eine "offensichtliche Schwächung" des Legalitätsprinzips.

Der Rechtsschutz wurde 1874 grundsätzlich dem Bundesgericht übertragen (Art 113), allerdings mit Einschränkungen (vgl. Art 113 Abs. 3). Insbesondere blieb der Entscheid über Rekurse betreffend Verletzung wichtiger verfassungsmässiger Rechte den politischen Bundesbehörden vorbehalten. Dieser Umstand wurde erst später beseitigt. Mit dem Aufstreben der Bundesgewalt im Allgemeinen und dem der Exekutive im Besonderen drängte sich auch bald die Frage auf nach Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung. Insbesondere ab dem 2. Weltkrieg kam es dann mit Nachdruck zur Forderung nach einer verbesserten Verwaltungsrechtspflege.

Schliesslich ist noch auf das Postulat des Ausbaus der Verfassungsgerichtsbarkeit einzugehen. Dieses Thema ist immer wieder aufgegriffen worden, aber konnte sich nie entscheidend durchsetzen. Zuletzt nahm der Nationalrat Ende 2011 gar den Vorschlag an, Art. 190 BV 1999, welcher die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen verbietet, zu streichen. Fast genau ein Jahr später, nämlich im Dezember 2012, folgte der Nationalrat dem Ständerat und trat nicht mehr auf die Vorlage ein, womit die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit wieder vom Tisch ist – vorerst.

Kägi schliesst mit Befund, dass insbesondere die Erfahrung mit dem Notrecht und der Dringlichkeit die Notwendigkeit des weiteren rechtsstaatlichen Ausbaus unserer Rechtsordnung bekräftigt haben. Er ist diesbezüglich auch zuversichtlich, sieht er doch im vorherrschenden Rechtsdenken einen "neuen rechtsstaatlichen Idealismus" und stellt fest, dass man im Volk zu erkennen beginne, dass diese Frage "jeden Bürger" angeht.

Hier sei daran erinnert, dass die Einschätzung Kägis aus dem Jahre 1952 datiert. Aus heutiger Sicht stellt sich aber wohl die berechtigte Frage, ob dieser "rechtsstaatliche Idealismus", wie ihn Kägi erkennt, noch immer verbreitet ist. Gerade die stetig zunehmende Zahl von Volksinitiativen, bei welchen immer öfter eine fehlende Umsetzbarkeit bemängelt wird oder deren Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht in Frage gestellt wird, weisen darauf hin, dass wiederum das demokratische Prinzip gegenüber dem Rechtsstaatsprinzip eine Vorrangstellung eigenommen hat. Das wiederholte "Nein" der eidg. Räte zu einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit spricht eine ähnliche Sprache.