17.2.1 Nozick

Der amerikanische Philosoph Robert Nozick gilt als einer der einflussreichsten Autoren der modernen Gerechtigkeitstheorie. Mit seinem Hauptwerk Anarchy, State, and Utopia aus dem Jahr 1974 lieferte Nozick eine philosophische Begründung des Minimal- oder Nachtwächterstaates – auch als Gegenentwurf zu Rawls’ drei Jahre zuvor erschienener Theory of Justice (1971), welche zwar ebenfalls dem Liberalismus zugerechnet werden kann, doch auch deutliche egalitäre Züge aufweist.
Den Gerechtigkeitsprinzipien von Rawls, wie auch allen anderen klassischen Verteilungsprinzipien, setzt Nozick nun seine „Anspruchstheorie“ (entitlement theory) der Gerechtigkeit gegenüber: Danach sei eine Güterverteilung gerecht, wenn jedem diejenigen Besitztümer zustünden, die er sich entweder rechtmässig ursprünglich angeeignet hat oder die ihm rechtmässig übertragen wurden. Da diese Anspruchstheorie nur auf einer Kette rechtmässiger Eigentumsübertragungen beruhe, handele es sich um eine rein „historische“ Betrachtung. Nozick hält diese für vorzugswürdig, da sie – anders als jede andere Theorie, welche eine Umverteilung vorsehe – nicht notwendig zu kontinuierlichen Eingriffen in die Eigentumsrechte führe.
Da Nozick als sog. Libertarianer die negative Freiheit des Einzelnen, also das Absehen von möglichst jeglichem Eingriff des Staates in die Autonomie der Bürger, als wichtigsten Wert betrachtet, der in einem Gemeinwesen zu verfolgen ist, kommt er auch zu der Schlussfolgerung, dass der Staat auf minimale Funktionen beschränkt werden solle, d.h. im Wesentlichen auf den Schutz vor Gewalt, Diebstahl und Betrug sowie auf die Durchsetzung von Verträgen.

Lesen Sie die folgenden Passagen aus Nozicks’ Anarchie, Staat, Utopia (München 1976, Kapitel 7, S. 143ff.) und überlegen Sie sich, ob Nozicks mit der Gleichsetzung des Begriffs der Gerechtigkeit mit demjenigen der rechtmässigen Eigentumsübertragung nicht vielleicht den Gerechtigkeitsbegriff unzulässig verkürzt.

Wäre die Welt völlig gerecht, so wäre die Frage der Gerechtigkeit bei Besitztümern durch die folgende induktive Definition völlig geklärt.
1. Wer ein Besitztum im Einklang mit dem Grundsatz der gerechten Aneignung erwirbt, hat Anspruch auf dieses Besitztum.
2. Wer ein Besitztum im Einklang mit dem Grundsatz der gerechten Übertragung von jemandem erwirbt, der Anspruch auf das Besitztum hat, der hat Anspruch auf das Besitztum.
3. Ansprüche auf Besitztümer entstehen lediglich durch (wiederholte) Anwendung der Regeln 1 und 2.
Der vollständige Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit würde einfach besagen, eine Verteilung sei gerecht, wenn jeder auf die Besitztümer Anspruch hat, die ihm bei der Verteilung zugehören.
[...]
Die allgemeinen Züge der Theorie der Gerechtigkeit bei den Besitztümern sind also folgende: der Besitz eines Menschen ist gerecht, wenn dieser auf ihn im Sinne der Grundsätze der gerechten Aneignung und Übertragung oder der Berichtigung von Ungerechtigkeiten (im Sinne der ersten beiden Grundsätze) einen Anspruch hat. Ist der Besitz jedes einzelnen gerecht, so ist die Gesamtmenge (die Verteilung) der Besitztümer gerecht. Um aus diesen allgemeinen Richtlinien eine bestimmte Theorie zu machen, mussten wir jeden der drei Grundsätze der Gerechtigkeit bei Besitztümern im einzelnen ausfuhren: den Grundsatz der Erstaneignung, den Grundsatz der Übertragung und den Grundsatz der Korrektur von Verletzungen der ersten beiden Grundsätze. Das möchte ich hier aber nicht versuchen.
[...]
Es ist nicht erkennbar, wie jemand, der eine andere Auffassung von der Verteilungsgerechtigkeit hat, die Anspruchstheorie zurückweisen könnte. Angenommen nämlich, es sei eine Verteilung verwirklicht, die einer dieser anderen Auffassungen entspricht; nennen wir sie V1. Vielleicht haben alle gleiche Anteile, vielleicht richten sie sich nach irgendeiner für wichtig gehaltenen Dimension. Nehmen wir nun an, NN sei ein großer Torschütze und von Fußballmannschaften sehr gesucht. (Nehmen wir ferner an, die Verträge liefen nur ein Jahr, und die Spieler hätten Handlungsfreiheit.) NN unterschreibt folgenden Vertrag mit einer Mannschaft: Bei jedem Heimspiel bekommt er 50 Pfennige von jeder Eintrittskarte. (Wir sehen hier von der Frage ab, ob er die Eigentümer ausnutzt, sie sollen für sich selber sorgen.) Die Spielzeit beginnt, und die Leute strömen zu den Spielen seiner Mannschaft; sie kaufen Eintrittskarten und stecken jedesmal 50 Pfennige des Preises in eine besondere Kasse, auf der der Name von NN steht. Sie sind begeistert von seinem Spiel; es ist ihnen den gesamten Eintrittspreis wert. Angenommen, in einer Spielzeit besuchen eine Million Menschen seine Heimspiele, und NN nimmt eine halbe Million ein, sehr viel mehr als das Durchschnittseinkommen und auch noch mehr als das bisherige Höchsteinkommen. Hat er einen Anspruch auf dieses Einkommen? Ist die neue Verteilung V2 ungerecht? Wenn ja, warum? Es ist überhaupt keine Frage, ob jeder Anspruch auf seine Besitztümer in V1 hatte; nach Voraussetzung war das ja im Sinne der Auffassung meines Argumentationsgegners eine zulässige Verteilung. Alle Betreffenden entschieden sich dafür, 50 Pfennige von ihrem Geld NN zu geben. Sie hätten es auch für Kinokarten, Süßigkeiten, Zeitschriften oder sonst etwas ausgeben können. Aber eine Million bezahlten es an NN, um ihn dafür Fußball spielen zu sehen. Wenn V1 eine gerechte Verteilung war und die Menschen freiwillig zu V2 übergingen, indem sie einen Teil ihrer Besitztümer unter V1 hergaben (doch wohl nicht für nichts und wieder nichts?), ist dann nicht auch V2 gerecht? Wenn die Leute berechtigt waren, über ihren Besitz zu verfügen, auf den sie (unter V1) Anspruch hatten, waren sie dann nicht auch berechtigt, ihn NN zu übertragen oder mit ihm zu tauschen? Kann irgendein Dritter sich über eine Ungerechtigkeit beklagen? Jeder andere hatte bereits unter V1 seinen gerechten Anteil. Unter V1 hatte niemand etwas, auf das irgendein anderer einen gerechten Anspruch hätte. Nachdem einige etwas an NN übertragen haben, haben Dritte immer noch ihre gerechten Anteile; die haben sich nicht geändert. Aufgrund wovon könnte eine solche Übertragung zwischen zwei Personen zu einem im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit berechtigten Anspruch auf einen Teil des Übertragenen seitens eines Dritten führen, der vor der Übertragung auf keines der Besitztümer einen gerechten Anspruch hatte?
[...]
Strukturelle Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit machen Umverteilung notwendig. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß eine wirklich frei zustande gekommene Besitzverteilung eine vorgegebene Struktur aufweist; und die Wahrscheinlichkeit ist vernachlässigbar klein, daß sie dieser Struktur weiterhin entspricht, wenn die Menschen tauschen und geben. Vom Standpunkt einer Anspruchstheorie aus ist die Umverteilung etwas sehr Problematisches, da sie mit der Verletzung der Rechte von Menschen verbunden ist. (Eine Ausnahme bilden solche Wegnahmen, die unter den Grundsatz der Korrektur von Ungerechtigkeiten fallen.) Auch unter anderen Gesichtspunkten ist sie problematisch.
[…]
Ob es nun durch Besteuerung der Arbeitsverdienste oder der Arbeitsverdienste oberhalb einer gewissen Grenze oder durch Wegnahme von Gewinnen oder in Form eines großen Topfes geschieht, so daß nicht klar ist, was woher kommt und was wohin geht - strukturelle Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit legen die Hand auf die Tätigkeit anAnarchy, State, and Utopiaderer Menschen. Nimmt man jemandem die Früchte seiner Arbeit weg, so ist das gleichbedeutend damit, daß man ihm Stunden wegnimmt und von ihm bestimmte Tätigkeiten verlangt. Wenn jemand gezwungen wird, eine Zeitlang eine bestimmte Arbeit oder unentgeltliche Arbeit zu leisten, so wird unabhängig von seinem Willen darüber entschieden, was er tun muß und für welche Zwecke er arbeiten muß. Dadurch werden die anderen zu Teileigentümern des Betroffenen; sie erlangen ein Eigentumsrecht über ihn, ganz wie eine solche teilweise Entscheidungsgewalt von Rechts wegen über ein Tier oder eine Sache ein Eigentumsrecht an ihm oder ihr bedeuten würde.

Wenn Sie dieses Thema interessiert, können Sie hierzu auch folgenden Aufsatz von Peter Koller, Zur Kritik der libertären Eigentumskonzeption. Am Beispiel der Theorie von Robert Nozick, Analyse und Kritik 3, 1981, Heft 2, S. 139-154, lesen. Online

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