14.2.4 Islam und Menschenrechte

Konflikte religiös inspirierter Rechtssysteme einiger Länder mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung mit international anerkannten Menschenrechten sind eines der beherrschenden Themen unserer Zeit, ihre Lösung eine der grössten Herausforderungen. Zuweilen wird behauptet, das islamische Recht (Scharia) sei unvereinbar mit menschenrechtlichen Forderungen wie denjenigen nach der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, der Toleranz gegenüber Homosexualität, dem Verbot grausamer Bestrafungsmethoden wie z.B. Steinigung oder der Glaubensfreiheit. Tatsächlich existieren in theokratischen Systemen, wie etwa dem Iran, noch Normen, welche z.B. für den Abfall vom muslimischen Glauben (Apostasie) die Todesstrafe vorsehen. Auch sind strukturelle Diskriminierungen der Frau in vielen von der Scharia geprägten Rechtsordnungen nicht unüblich. Andererseits wird dabei häufig übersehen, dass viele dieser heute so selbstverständlich erscheinenden Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte auch in den USA und Europa über einen langen Zeitraum hinweg und z.T. bis in die jüngste Vergangenheit hinein missachtet wurden. Exemplarisch mag man hier an die Verwehrung des Frauenstimmrechts in der Schweiz (auf Bundesebene bis 1971 und im Kanton Appenzell Innerrhoden sogar bis 1990) denken. Ausserdem übersehen wird vielfach, dass die Staaten mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten keineswegs eine homogene Einheit bilden. Als Gegenbeispiel zum Iran mag hier etwa die Türkei angeführt werden, welche einen langen Säkularisierungsprozess durchlaufen hat, in ihrer Trennung von Staat und Religion z.T. über das durchschnittliche europäische Niveau weit hinausgeht – und übrigens bereits 1930 das aktive und 1934 das passive Wahlrecht für Frauen eingeführt hat.
Wichtig ist überdies zu beachten, davon abzusehen, dem Islam, wie auch jeder anderen Religion, bestimmte Glaubensinhalte als essentiell und unveränderlich zuzuschreiben. Die Erfahrung der christlichen und jüdischen Aufklärung hat gezeigt, dass auch sehr alte religiöse Quellen mittel Interpretation für einen Bedeutungswandel offen sind. Nicht zufällig gibt es im Islam, wie in jeder Weltreligion, eine Vielzahl verschiedener Schulen, welche jede für sich eine andere Lesart der sakralen Schriften in Anspruch nimmt und hieraus z.T. sehr unterschiedliche Normen ableitet.
Angesichts der beschriebenen Spannungen zwischen bestimmten Auslegungen des Islam und der Forderung nach Gewährleistung der Menschenrechte, erscheinen Versuche einer Neuinterpretation der religiösen Quellen im Sinne der Menschenrechte als hochinteressant. Ein Beispiel für einen solchen Versuch ist das Werk des im Sudan geborenen und derzeit an der amerikanischen Emory University School of Law lehrenden Professors Abdullahi Ahmed An-Na’im. Dieser fordert sowohl einen kulturübergreifenden als auch einen religionsinternen Dialog über die Geltung der Menschenrechte und betrachtet Religion, Säkularität und Menschenrechte als drei Phänomene, die nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich sogar wechselseitig bedingen.

Abdullahi Ahmed An-Na’im, Islam and Human Rights: Beyond the Universality Debate, Proceedings of the 94th Annual Meeting of the American Society of International Law (2000), S. 95-101. Online Abdullahi Ahmed An-Na’im, The Interdependence of Religion, Secularism, and Human Rights. Prospects for Islamic Societies (Symposium Talking Peace with Gods, Part 2), Common Knowledge, Vol. 11, Nr. 1, 2005, S. 56-80.Online Weitere Aufsätze von Abdullahi Ahmed An-Na’im finden Sie auf seiner Homepage an der Emory University.Online

Gesetz
Artikel