11.1.1 Eugen Ehrlich

Die Freirechtslehre – der Begriff geht auf einen Vortrag Ehrlichs aus dem Jahre 1903 zurück – (Ehrlich 1903) betont in Auseinandersetzung mit der vor allem von der sogenannten „Begriffsjurisprudenz“ vertretenen Auffassung, eine Rechtsordnung sei ein lückenloses und widerspruchsfreies Ganzes, die Bedeutung der „freien Rechtsfindung“ des Richters. Die Entscheidung eines Einzelfalles erfolgt demnach nicht durch logische Ableitung, die gleichsam „mechanische“ Subsumtion unter allgemeine Normen, die für jeden Sachverhalt bereits die richtige Lösung bereit hielten, sondern sei eine schöpferische Leistung des Rechtsanwenders. Ehrlich versteht unter der „freien Rechtsfindung“ aber nicht eine Rechtssprechung nur nach dem individuellen Belieben des Richters, sondern will dessen notwendigerweise individuelle Entscheidung an objektiven Kriterien orientieren: Wo eine Entscheidung nicht eindeutig aus dem Gesetz zu entnehmen sei, solle auf soziale Normen zurückgegriffen werden, auf das „lebende Recht“, also die faktisch bestehende, anerkannte und befolgte gesellschaftliche Ordnung.

Die entscheidende Instanz für die Entwicklung des Rechts ist nach Auffassung Ehrlichs nicht der Staat mit seinen Institutionen, sondern die Gesellschaft:

„Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“ (Ehrlich 1989, S. Vorrede).

Gegenüber dem positiven staatlichen Recht, das staatliche Institutionen produzieren und anwenden, dem „Recht als Regel, nach der der Richter die Rechtsstreitigkeiten, die vor ihn gebracht werden, zu entscheiden hat“, formuliert Ehrlich einen Vorrang des in der Gesellschaft tatsächlich praktizierten Rechts, dem „Recht als Regel des menschlichen Handelns“. Recht wird als eine historisch-soziologische Gegebenheit betrachtet, als gesellschaftliches Faktum, das die Rechtssoziologie als wahre Rechtswissenschaft zu erforschen habe. Dem Juristenrecht mit seinem normativen Rechtsbegriff, der sich, losgelöst von den Tatsachen, an den vom Gesetzgeber vorgegebenen Regeln orientiert, „nach denen die Menschen handeln sollen“ und von den Gerichten oder anderen Behörden beurteilt werden, stellt Ehrlich also einen soziologischen Rechtsbegriff gegenüber, der das in seinen Augen bedeutendere, faktisch gelebte, gesellschaftliche Recht umfasst, nach dem die Menschen tatsächlich handeln.

Ehrlichs theoretische Überlegungen stellen eine wichtige Erweiterung der rechtswissenschaftlichen Perspektiven dar. Die soziologische Erforschung des Rechts und die Erkenntnis, dass das staatliche Rechtssystem nur eine der tatsächlich bestehenden und alltäglich befolgten normativen Ordnungen in einer Gesellschaft darstellt, bedeuten eine massgebende Ergänzung und ein kritisches Korrektiv rechtswissenschaftlicher Forschung und Praxis. Problematisch an Ehrlichs Erwägungen zum faktisch gelebten Recht und seiner Vorstellung von der „freien Rechtsfindung“ ist aber die Frage, inwiefern das „lebende Recht“ normativ für die Konkretisierung von Normen herangezogen werden kann: Dass eine Norm faktisch besteht, also befolgt und gegebenenfalls mit Zwang durchgesetzt wird, kann aus der Perspektive dessen, der sie befolgen soll, ihre Verpflichtungskraft, die sie mit sich bringen soll, nicht begründen. Derjenige, der sich – möglicherweise gegen seinen Willen – einer Norm zu unterwerfen hat, besitzt einen Anspruch an die Begründung ihrer Geltung, an die Legitimität des Rechts. Die Verbindlichkeit, die Normativität des Rechts kann Ehrlichs Konzept, das die regelmässige Beachtung von Normen, nicht aber das Bewusstsein von der Richtigkeit dieses Verhaltens als internen Aspekt der Rechtsgeltung erfasst, nicht erklären.