6.2.2 Praktische Philosophie

In der praktischen Philosophie geht es um die Frage “Was soll ich tun?“ Kants praktische Philosophie ist insbesondere in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie der Metaphysik der Sitten (1797) niedergelegt. Im Folgenden werden wiederum nur die Grundzüge dargestellt.
Die Kantische praktische Philosophie zielt auf eine Letztbegründung der Moral. Kant erstreckt sein kritisches Projekt der Philosophie, die Suche nach einem sicheren Fundament des Denkens, auch auf den Bereich des Handelns. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass der Mensch als „Bürger zweier Welten“ zu verstehen ist: Als Sinnenwesen („homo phaenomenon“) ist der Mensch den Naturgesetzen unterworfen, als Verstandeswesen („homo noumenon“) gehört er einer intelligiblen Welt an. Als Verstandeswesen fragt der Mensch nach den Grundsätzen für sein Handeln. Die Frage „Was soll ich tun?“ ist als Frage nach den Grundsätzen für gutes Handeln zu verstehen. Diese Grundsätze moralischen Handelns können – das ergibt sich aus der oben skizzierten Erkenntnistheorie – nicht mehr aus einem göttlichen Schöpfungsplan entwickelt werden, sondern die Grundsätze müssen in der Vernunft selbst, insofern sie „praktisch“ wird, aufgefunden werden. Kant ist davon überzeugt, dass es moralische Normen a priori gibt, die für alle Menschen verbindlich sind (vgl. (Schultz 2008, S. 116 f.)).
Kants Ethik ist eine Willensethik. Der Wille, nicht etwa die Handlung selbst oder ihre Folgen, sind der Gegenstand für Gutbeurteilungen:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (GMS IV, 393).

Die Frage ist dann natürlich, wann und unter welchen Umständen ein Wille wirklich gut ist. Kant muss also den Willen bzw. das Vermögen zu wollen untersuchen. Unter dem „Willen“ versteht Kant nicht einen dunkeln Trieb des Menschen, sondern im Gegenteil etwas Rationales. Der Wille ist durchaus von Begierden, Lüsten und Neigungen affiziert, aber dadurch nicht determiniert, denn er ist als praktische Vernunft das Vermögen, seinem Handeln einen Zweck zu geben und sich von Regeln leiten zu lassen.
Zugleich handelt es sich um eine Pflichtenethik (deontologische Ethik). Kant braucht den Begriff der Pflicht, um den Begriff des guten Willens zu erklären. Der Wille ist nicht schon dann gut, wenn er sich die Pflichterfüllung zum Ziel macht. Das „pflichtgemässe“ Handeln nennt Kant „Legalität“; hier kommt es auf die Übereinstimmung von Handlung und Pflichteninhalt an. Etwa: Der Fussgänger handelt pflichtgemäss, wenn er am Rotlicht wartet. Das pflichtgemässe Handeln, das Kant „Legalität“ nennt, wird unterschieden vom „Handeln aus Pflicht“, das er „Moralität“ nennt. Hier handelt der Akteur aus einer bestimmten Motivation heraus. Bei dieser Motivation handelt es sich nicht um eine Neigung oder ein Gefühl (etwa Mitgefühl oder Mitleid). Moralische Handlungen im Sinne Kants zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus Achtung vor dem moralischen Gesetz, eben „aus Pflicht“ erfolgen.
Eine deontologische Ethik hat es mit „Sollensansprüchen“ zu tun. Das Sollen, um das es hier geht ist aber nicht irgendein Sollen, wie z.B. in dem Satz „Wenn du ein rechtschaffener Mensch sein willst, dann musst du die Gesetze deines Staates einhalten.“ Dabei handelt es sich um ein bloss instrumentelles Sollen. Auch kann das Sollen nicht von der Existenz eines Gottes abhängig sein, denn diese ist Zweifeln ausgesetzt. Eine christliche Pflichtenethik, die auch eine Sollensethik darstellt (so etwa das Gebot „Du sollst nicht stehlen“), beruht auf Annahmen, die diese Ethik angreifbar machen. Das Sollen, das Kant vorschwebt, darf nicht selbst wiederum von etwas anderem (etwa der Existenz eines Gottes oder Klugheitserwägungen) abhängig sein, es muss sich um ein „unbedingtes“ und in diesem Sinne „letztbegründetes“ Sollen handeln.
Neben dem „Willen“ und dem „unbedingten Sollen“ ist der Begriff der Freiheit für die Kantische Moralphilosophie grundlegend. Die menschliche Freiheit kann, da sie kein Gegenstand der Wahrnehmung ist, nicht als solche positiv erkannt werden, sie ist „unbegreiflich“ (KpV IV, 7). Der Freiheit kann also keine empirische Realität zugesprochen werden. Freiheit ist für Kant ein „Postulat“ (KpV IV, 122). Unter einem „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ versteht er „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz (...), sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV IV, 122). Die Existenz von Freiheit ist also einem syllogistischen Beweis nicht zugänglich, ihre praktische Notwendigkeit dagegen sehr wohl begründbar.
Der wohl wichtigste Gedanke der praktischen Philosophie Kants betrifft die folgende Frage: Wie lassen sich der unbedingte Sollenanspruch und die menschliche Freiheit zusammen denken? Dafür formuliert Kant das moralische Gesetz: Dieses besteht in Form des „kategorischen Imperativs“ als eines Vernunftprinzips a priori. Wie oben dargestellt, bezieht Kant die Freiheit auf den Willen, nicht auf Handlungen. Freiheit bedeutet demnach in negativer Verwendung die Unabhängigkeit der Willkür von empirischen Bestimmungen (Spontaneität), in positiver Verwendung bedeutet Freiheit Autonomie. „Autonomie“ bedeutet bei Kant Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft (KpV IV, 33). Denn könnte die Vernunft nicht selbst gesetzgeberisch tätig werden, so müsste sie einem Gesetz der Natur gehorchen und ein „solches Gesetz könnte nur die Grundlage eines heteronomen Imperativs sein“ (Beck 1995, S. 121). Moralisches Sollen kann sich für Kant, der hierin David Hume folgt, nicht aus einem (phänomenalen) Sein ergeben. Das ist mit dem sog. Sein-Sollens-Fehlschluss gemeint. Ein moralisches Sollen aus einem empirischen Sein herzuleiten, wäre auch mit dem Anspruch unbedingten Sollens unvereinbar. Daher muss ein autonomes Gesetz bemüht werden, welches die Form des kategorischen Imperativs annimmt: Denn soll „seine Willkür notwendig, d.h. unabhängig von den Begierden, die die Materie seines Wollens sind, bestimmt sein – eine solche notwendige Bestimmung ist im Falle der Pflicht gegeben –, so muss sie durch die Form des Gesetzes, nicht durch seinen Inhalt bestimmt sein“ (Beck 1995, S. 187). Für Kant sind Gesetze nicht nur Beschränkungen, sondern auch „Produkte der Freiheit“ (des freien Willens, nicht der Willkür). Dies wird auch als Kants „kopernikanische Wendung in der Ethik“ (Beck 1995, S. 172) bezeichnet. Autonomie ist also die Freiheit des Willens; der freie Wille gibt der Willkür das Gesetz (vgl. (Beck 1995, S. 191)). Da die Willkür nicht von Natur aus das tut, was das Gesetz vorschreibt, ist das Gesetz ein Prinzip der „praktischen Nötigung, d. i. Pflicht“ (GMS IV, 434).
Was ist der kategorische Imperativ? Kant unterscheidet einen „kategorischen“ von „hypothetischen“ Imperativen. Imperative richten sich allgemein an alle Vernunftwesen. Einen hypothetischen Imperativ enthält etwa der oben erwähnte Satz „Wenn du ein rechtschaffener Mensch sein willst, dann musst du die Gesetze deines Staates einhalten.“ Dieser Satz ist allgemein gültig; die Verpflichtung („Du musst die Gesetze deines Staates einhalten“) gilt aber nicht unbedingt, sondern nur unter einer Bedingung („Ich will ein rechtschaffener Mensch sein“). Im Unterschied zu diesen hypothetischen Imperativen gelten kategorische Imperative absolut, d.h. ohne Ausnahme und notwendig.
Alle vernünftigen Menschen stehen, so Kant, unter einem kategorischen Imperativ als verbindlichem Ausdruck des moralischen Gesetzes. Um die Funktion des kategorischen Imperativs zu verstehen, muss man zunächst verstehen, was mit „Maximen“ gemeint ist. „Maximen“ sind für Kant subjektive Handlungsprinzipien, also Grundsätze, an denen ich mein Handeln ausrichte. Maximen sind individuell, d.h. jeder Mensch folgt seinen eigenen Maximen. Inhaltlich beziehen sich Maximen auf den eigenen Lebensplan, also auf die Art und Weise, sein Leben zu führen (Höffe 1996, S. 186). Folgendes Beispiel, das Kant selbst in der Grundlegung diskutiert, sei hier genannt: „Wenn ich in Geldnot bin, leihe ich mir Geld, indem ich mich verpflichte, dieses zurückzuzahlen, obwohl ich diese Absicht nicht habe.“ Mittels des kategorischen Imperativs kann diese Maxime auf ihre Moralität überprüft werden. Höffe unterscheidet in diesem Zusammenhang noch zwischen „Allgemeinheit“ und „Verallgemeinerung“:

„Die Allgemeinheit, die in jeder Maxime steckt, ist eine subjektive (relative) Allgemeinheit, nicht die objektive (absolute oder strenge) Allgemeinheit, die schlechthin für jedes Vernunftwesen Gültigkeit hat. Der zweite Gesichtspunkt im kategorischen Imperativ, die Verallgemeinerung, prüft, ob der in einer Maxime gesetzte subjektive Lebenshorizont auch als objektiver Lebenshorizont, als vernünftige Einheit einer Gemeinschaft von Personen, gedacht und gewollt werden kann. Aus der bunten Vielfalt subjektiver Grundsätze (Maximen) werden die moralischen von den nichtmoralischen ausgesondert, und der Handelnde ist aufgefordert, nur den moralischen Maximen zu verfolgen“ (Höffe 1996, S. 189).

Der kategorische Imperativ fungiert als Maximenprüfungsprogramm. Kant gibt fünf Formulierungen des kategorischen Imperativs an (vgl. (Paton 1962, S. 152 ff.); (Wood 1999, S. 70 ff.)). In der Grundformulierung lautet der kategorische Imperativ:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die zu zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde (GMS IV, 421).“

Es kommt also nach dem kategorischen Imperativ darauf an, ob sich die Universalisierung der Maxime widerspruchsfrei denken und wollen lässt. Die entscheidende Frage ist also die nach der Gesetzestauglichkeit der Maxime. Insofern handelt es sich um ein Gedankenexperiment. Kant formuliert das Gedankenexperiment am Beispiel des geliehenen Geldes so:

„Ich verwandle also die Zumutung der Selbstliebe [TA: Gemeint ist hier die subjektive Vorstellung meines Wohlergehens, die sich in der Maxime ausdrückt] in ein allgemeines Gesetz, und richte die Frage so ein: wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun sogleich, daß sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgehen, lachen würde“ (GMS IV, 422).

Mit dem kategorischen Imperativ ist nach der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit der Maxime gefragt. Angewandt auf das Beispiel des Geldverleihens ist zu prüfen, ob sich die Folgen einer Verallgemeinerung der Maxime widerspruchsfrei denken lassen. Was wären die Folgen in diesem Fall? Wenn ich immer dann, wenn ich ein Vertragsversprechen abgebe, seinen Bruch mitbeabsichtige, dann würde man mit mir auf Dauer keine Verträge mehr schliessen. Ich kann also die Maxime – Gebundenheit durch Vertrag und Vorbehalt eigener Nichtbindung – nicht sinnvoll zusammen denken. Die genannte Maxime hat den Test des kategorischen Imperativs nicht bestanden.
Für den Kontext des moralisch richtigen Rechts ist vor allem die zweite Ausprägung des kategorischen Imperativs von Bedeutung:

„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS IV, 429).

Da diese Formulierung den kategorischen Imperativ auf interpersonale Verhältnisse anwendbar macht, bot sich diese Version besonders für juristische Versuche an, den Inhalt des Menschenwürdesatzes zu beschreiben.
Die Menschenwürde bei Kant ist allerdings zunächst einmal ein Thema der Moralphilosophie. Die moralphilosophische Grundierung der Menschenwürde hat aber Folgen für die Tugendethik und für die Rechtslehre. An dieser Stelle wird aber zunächst nur die moralphilosophische Grundlegung der Menschenwürde betrachtet. Den Ausgangspunkt der Menschenwürdebegründung bei Kant bildet eine Unterscheidung, die für Kants „moralische Anthropologie“ grundlegend ist: Der Mensch ist „Bürger zweier Welten“, der Sinnenwelt und der Verstandeswelt. Der Mensch gehört als „homo noumenon“ einem „Reich der Zwecke“ an. In diesem „Reich der Zwecke“ besitzt alles entweder einen „Preis“ oder eine „Würde“:

„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (GMS IV, 434; MdS 434 f., 462).

Mit dem Preis, der noch nach materiellem „Marktpreis“ und immateriellem „Affektionspreis“ unterschieden wird, ist folglich ein relativer, mit der Würde hingegen ein absoluter, innerer Wert bezeichnet. Würde ist das Attribut „eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“ (GMS IV, 434). Damit ist das Vermögen der praktischen Vernunft zur Autonomie gemeint. Die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung bedingt also die Zweckhaftigkeit des Menschen an sich selbst und damit seine Würde. So heisst es bei Kant dann auch: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS IV, 436). Es ist also nicht das gute Handeln, die Wohltätigkeit, die den Grund der Würde ausmacht:

„Selbst Menschen können sich durch Wohltun zwar Liebe, aber dadurch allein niemals Achtung erwerben, sodaß die größte Wohltätigkeit ihnen nur dadurch Ehre macht, daß sie nach Würdigkeit ausgeübt wird“ (KpV V, 131).

Wie Matthias Mahlmann gezeigt hat, gibt Kant insgesamt vier Begründungen für die „Menschenwürde“ an (Mahlmann 2012, S. 318). Alle vier Begründungsstrategien rekurrieren auf den Wert bzw. die moralische Folgen von Autonomie. Der – wie Mahlmann darlegt – überzeugendste Ansatz argumentiert mit dem Erlebnis des Eigenwerts von Moralität (Mahlmann 2012, S. 319). Das Individuum erfährt den Wert seiner Autonomie unmittelbar in dem Moment, in dem es sich von der praktischen Vernunft und nicht seinen Neigungen bestimmen lässt. Kant beschreibt diesen Moment als ein Erlebnis eigener Art, für das er den Begriff der „Erhabenheit“ wählt:

„Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Unmuth beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nöthigung, womit Unmuth in geradem Widerspruch steht. Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstößt, auch nicht Reiz, der zur Vertrautheit einlädt), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Fall aber, da dieser in uns selbst liegt, eine Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne“ (GMS IV, 23 Fn.).

Mit dieser Begründung reagiert Kant kritisch auf den Dichter Friedrich Schiller, der das Gefühl der „Achtung“ als etwas Unangenehmes abgetan hatte (Schiller, Über Anmut und Würde, 3. Stück). Eine zweite, bedenkenswerte Begründung der Menschenwürde, die sich auf Kant stützen kann, stellt auf die Bedeutung der Erfahrung von Freiheit ab. Mahlmann formuliert dies treffend: „Durch die Freiheit werde ein Menschsein jenseits des phänomenal Erfahrbaren erschlossen“ (Mahlmann 2012, S. 318). In der moralischen Freiheit geniesst der Mensch seine Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und ihren Zwängen:

Kant stellt sich die Frage, was die notwendige Bedingung des Werts sei, „den sich die Menschen allein selbst geben können“ [d.h. den der Würde, T.A] (KpV V, 86). „Es ist nichts anderes als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also zur Sinnenwelt gehörig ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß“ (KpV V, 87).

Kant beschreibt die mit der moralischen Freiheit verbundene Erfahrung genauer:

„Diese Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen stellt, indem sie uns zugleich den Mangel der Angemessenheit unseres Verhaltens in Ansehung derselben bemerken läßt und dadurch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich. Hat nicht jeder auch nur mittelmäßig ehrliche Mann bisweilen gefunden, daß er eine sonst unschädliche Läge, dadurch er sich entweder selbst aus einem verdrießlichen Handel ziehen oder wohl gar einem geliebten und verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte, bloß darum unterließ, um sich insgeheim in seinen eigenen Augen nicht verachten zu dürfen“ (KpV V, 87 f.)

Die weiteren Begründungen, weswegen dem Menschen „Würde“ zukommen solle, enthalten eine petitio principii, d.h. das zu Begründende wird als wahr vorausgesetzt (vgl. näher (Mahlmann 2012, S. 319)). So lautet eine andere Begründung, dass nur unter der Voraussetzung eines Unbedingten, gleichsam eines „letzten Wortes“ im Bereich des Moralischen, ein infiniter Regress vermieden werden kann,

„(...) weil ohne dieses [Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, T.A.] überall gar nichts von absolutem Werte würde angetroffen werden; wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes Prinzip angetroffen werden“ (GMS IV, 428).

Dieses Argument setzt aber voraus, dass es im Moralischen gerade keinen infiniten Regress geben soll. Warum das so sein muss, wird an dieser Stelle aber nicht begründet. Eine weitere Begründung stützt sich auf den Gedanken, dass das Individuum nur aufgrund seiner Moralität, d.h. seiner Bestimmung durch praktische Vernunft, am Reich der Zwecke teilhat:

„(...) vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zweck (freilich nur ein Ideal) heißen kann“ (GMS IV, 433).

Auch dieses Argument gibt nicht an, weswegen es für das Individuum von unbedingtem Wert ist, am Reich der Zwecke teilzuhaben.
Die Autonomie bedarf an sich zu ihrer Wirklichkeit der Aktualisierung durch den einzelnen Menschen: Ich selbst muss mich moralisch verhalten, indem ich nur nach Maximen lebe und handle, die ich der Moralkonformitätsüberprüfung durch den kategorischen Imperativ unterzogen habe. Nun kann die Tatsache, dass einem Menschen Würde zukommt, aber nicht davon abhängen, ob er sich im Sinne seiner Autonomie betätigt oder nicht. Schon die zweite, oben dargestellte Formulierung des kategorischen Imperativs spricht deshalb von einer über die Individualität hinausgreifenden „Menschheit“, die in jeder Person zu achten sei. An anderer Stelle spricht Kant von der „Idee der Menschheit“ als eines „Zwecks an sich selbst“ (vgl. GMS IV, 462). Damit kommt auch der „Menschheit“, sofern sie Idee ist, Würde zu. Also besitzt auch der Einzelne, unabhängig vom Gebrauch seiner Autonomie, kraft der Teilhabe an der „Idee der Menschheit“ Würde.
Es hat den Anschein, als beziehe sich die Menschenwürdekonzeption Kants zunächst nur auf den Einzelnen, der von seiner Würde überzeugt werden soll. Indes wird die Menschenwürde auch bei Kant durchaus von Anfang an in interpersonalen Verhältnissen gedacht. Dies wird etwa an der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs deutlich, die – wie oben zitiert – vom Individuum verlangt, den anderen nie als blosses Mittel zu behandeln. Der andere hat mit anderen Worten einen moralischen Anspruch auf Achtung seiner Würde.

Frage 34: Was meint „Letztbegründung“ der Moralphilosophie bei Kant?

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Frage 35: Was bedeuten folgende Begriffe im Kontext der Kantischen Moralphilosophie: a) Willensethik, b) Pflichtenethik, c) Maxime, d) Imperativ?

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Frage 36: Was besagt der „kategorische Imperativ“ und wie funktioniert dieser?

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Frage 37: Was versteht Kant unter der Menschenwürde und wie wird diese begründet?

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