4.3.2 Naturzustand bei Locke
Lockes Naturzustandskonzeption ist insofern ungewöhnlich, als er von dessen historischer Realität ausgeht: Es habe immer wieder einen Naturzustand gegeben. Locke kann die Historizität, die Wirklichkeit des Naturzustandes behaupten, weil er die Herrschaftsform des Absolutismus mit diesem Zustand verbindet.
Der Naturzustand ist also kein (reines) Gedankenexperiment (wie bei Hobbes), keine blosse Darstellungs- oder Argumentationshilfe,
sondern ein geschichtliches, immer wiederkehrendes und daher stets mögliches Übel, gegen das institutionelle (und d.h. für
Locke rechtliche) Vorkehrungen zu treffen sind. Das Recht ist für Locke das wesentliche Mittel, um einen Rückfall in den Naturzustand
(verstanden als absolutistische Herrschaft) zu verhindern. Auch wegen dieses Konnexes zwischen Recht und richtiger, weil menschenrechtlich
eingehegter Herrschaft wurde Locke für die Verfassungsentwicklung in den U.S.A. und – z.T. über die dortigen Entwicklungen
vermittelt – auch in Europa massgebend.
Die Weiterentwicklung der Naturzustandskonzeption durch Locke beruht darauf, dass er ihn als einen Rechtszustand denkt. Das
natürliche Gesetz, mithin das Naturrecht, gilt selbstverständlich auch im Naturzustand; schon hier gibt es Rechte und korrespondierende
Pflichten (z.B. das Eigentum des anderen nicht wegzunehmen). Die entscheidende Wendung, die Locke der Naturzustandslehre gibt,
besteht darin, dass seine Rechtskonzeption des Naturzustands inhaltliche Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Herrschaft
stellt: Während Hobbes‘ Naturzustandskonzeption nur zu einer Befriedung im Horizontalverhältnis der Bürger untereinander führen
konnte, hat Lockes Ansatz auch eine Verrechtlichung im Vertikalverhältnis zwischen Bürgern und Regierung zur Folge. Lockes
Schreckgespenst ist nicht so sehr die Abwesenheit politischer Herrschaft als vielmehr die Anwesenheit willkürlicher Herrschaft:
Hobbes verfasst seine Naturzustandskonzeption, um den Gefahren des Bürgerkriegs zu begegnen, Locke will den Absolutismus verhindern.
Die Ausübung von Herrschaft wird von Locke daher an vorstaatliche, vom Individuum nicht aufgebbare Rechte, die jede Form politischer
Herrschaft gelten lassen muss, gebunden. Absolute Herrschaft ist mit dem natürlichen Gesetz, das im Staat fortgilt (TTG II
135, 285), nicht vereinbar. Grund ist, dass die Individuen ihre Freiheit nicht vollständig aufgeben können:
Da niemand über das natürliche Gesetz, das die Selbsterhaltung zur Pflicht macht, disponieren kann, ist absolute Herrschaft
eine rechtliche Unmöglichkeit.
Der Naturzustand bei Locke ist in dreifacher Hinsicht defizient gegenüber dem staatlichen Zustand. Erstens ist es ein Zustand,
in dem es kein positives Gesetzesrecht gibt (TTG II 124, 278). Zweitens gibt es im Naturzustand keinen unabhängigen und unparteiischen
Richter, der Streitfälle entscheiden kann (TTG II 125, 279), und schliesslich, drittens, fehlt es an einer rechtsförmigen
Urteils- oder Gesetzesdurchsetzung (TTG II 126, 279). Man erkennt unschwer, dass der Naturzustand gerade wegen des Mangels der drei öffentlichen Gewalten als mangelhaft dargestellt wird.
Ebenso wie bei Hobbes ist auch für Locke der Naturzustand letztlich ein Kriegszustand. Allerdings geht Locke anders als Hobbes von einer ausgewogeneren Anthropologie aus: Die Menschen können das natürliche Gesetz
und damit ihre wechselseitigen Rechte und Pflichten erkennen, werden aber doch durch ihr eigenes Interesse oft irregleitet
(TTG II 124, 279). Es gibt durchaus verdorbene und schlechte Menschen, die die sonst auch im Naturzustand mögliche Stabilität
in Gefahr bringen (TTG II 128, 280). Niemand wird angesichts der Unsicherheiten des Naturzustands auf den Gebrauch von physischer
Gewalt verzichten, wenn er seine Ziele so effektiver verfolgen kann.
Frage 18: Welche Besonderheiten weist die Lockesche Naturzustandskonzeption auf?
Antwort (Klicken Sie hier)