8.1.2 Auslegungselemente
Für die Auslegung von Rechtsnormen hat die juristische Methodenlehre einen traditionellen Kanon von Auslegungselementen entwickelt. Diese Auslegungselemente sind Aspekte, unter denen eine Norm bei der Auslegung zu untersuchen ist.
Frage: Welche klassischen Auslegungsargumente gibt es und worauf zielen diese ab?
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Es gibt das sprachlich-grammatikalische, das systematische, das historische und das teleologische Auslegungsargument.
- Das grammatikalische Auslegungselement fragt nach dem Wortlaut des Gesetzes.
- Das systematische Auslegungselement fragt nach der systematischen Stellung der auszulegenden Bestimmung im Gefüge des Gesamtgesetzes, eines Rechtsgebiets oder der Rechtsordnung insgesamt. Das Rechtssystem beruht auf einer äusseren, Aufbau und Gliederung betreffende, und einer inneren, die getroffenen Wertentscheidungen betreffende, Systematik. Das Gebot, systematisch auszulegen ergibt sich daraus, dass die Rechtsordnung idealerweise eine Einheit, also ein in seinem Aufbau kohärentes, transparentes Gefüge von gesetzlichen Anordnungen sowie in seinen Wertentscheidungen ein stimmiges System darstellt. Seine Einzelbestandteile dürfen daher nicht isoliert, ohne Beachtung ihres normativen Kontexts betrachtet werden. Inkonsistente, wertungswidersprüchliche Interpretationen sollen vermieden werden.
Eine Konsequenz der systematischen Betrachtungsweise ist das Gebot der verfassungskonformen Auslegung: Weil die Verfassung die rechtliche Grundordnung ist, aus der sich alles staatliche Recht ableitet, hat sich die Auslegung aller Rechtsätze an den übergeordneten Wertentscheidungen der Verfassung auszurichten. Die verfassungskonforme Auslegung betont somit den inneren Zusammenhang, der zwischen allen Rechtnormen besteht.
- Das historische Auslegungselement fragt nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, wobei die Gesetzesmaterialien als Hilfsmittel herangezogen werden. Die Materialien sind jene Dokumente, die bei der Ausarbeitung eines Gesetzes anfallen, z. B. Initiativtext, Vorentwürfe, Protokolle von Expertenkommissionen, im „Schweizerischen Bundesblatt“ publizierte Botschaft des Bundesrates an die Räte, im „Amtlichen Bulletin der Bundesversammlung“ wiedergegebene Verhandlungen in den Räten etc. Gefragt wird nach den Regelungsabsichten des Gesetzgebers. Das Bundesgericht nennt es einen allgemeinen Grundsatz der Gesetzesauslegung, dass eine „Auslegung (…) zwar nicht entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten [ist]“ (BGE 135 IV 162(E. 3.2)). Je jüngeren Datums ein Erlass ist, desto beachtenswerter ist tendenziell die Absicht des Gesetzgebers bei der Auslegung, denn – so die dahinterstehende Annahme – einerseits lässt sich der gesetzgeberische Wille noch relativ gut ermitteln und zweitens sind die Verhältnisse, auf die sich der gesetzgeberische Wille bezog, noch die gleichen.
Beim historischen Auslegungsargument gibt es zwei (Haupt-)Varianten: Die erste, sog. subjektiv-historische Methode fragt nach der entstehungszeitlichen Absicht der an der Gesetzgebung beteiligten Personen, nach dem tatsächlichen Willen des historischen Gesetzgebers. Die zweite sog. objektiv-historische Methode will den Sinn des Gesetzes eruieren, wie er sich aus allen greifbaren Anhaltspunkten, d. h. den Materialien der Gesetzgebung, darüber hinaus aber ganz allgemein aus dem damaligen historischen (politischen, sozialen, ökonomischen, ideologischen) Kontext ergibt. Ermittelt werden sollen hier die damaligen gesetzgeberischen Zweckbestrebungen. Zusätzlich gibt es noch eine weiteren Variante, die als objektiv-zeitgemässe oder objektiv-teleologische Interpretationsmethode bezeichnet wird: Diese will das Gesetz nicht „subjektiv“ nach dem Willen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen, noch als Resultat der entstehungszeitlichen Umstände auslegen; sondern sie fragt nach dem „objektiven“ Sinn der im Gesetz verwendeten Worte, nach der Systematik des Gesetzes und nach den Zwecküberlegungen, wobei der historische, aber auf die Gegenwart übertragene Gesetzessinn zu ermitteln ist. Die Verhältnisse der Gegenwart – die von jenen der Entstehungszeit erheblich abweichen können – sind zu berücksichtigen. Es besteht insofern ein fliessender Übergang zwischen der objektiv-zeitgemässen und der (objektiv-)teleologischen Auslegung.
- Das teleologische Auslegungselement („Telos“ [gr.]: Zweck, Ziel) hinterfragt eine Gesetzesbestimmung nach dem Zweck, welcher der Regelung zugrunde liegt; es geht um die hinter einem bestimmten Rechtssatz stehenden Motive (sog. ratio legis). Wie bei der historischen Interpretation gibt es auch zwei Varianten der zweckorientierten Auslegung: In der subjektiv-teleologischen Form wird nach dem Zweck gefragt, den der historische Gesetzgeber seinem Gesetz zugrunde gelegt hat; in der objektiv-teleologischen Form geht es darum, welcher Zweck heute, nach der aktuellen Gesetzeslage, nach aktuellem Wertungshorizont zugemessen werden sollte. Auch wenn objektiv-teleologisch vorgegangen wird, bedeutet das nicht, dass die Zweckvorstellungen des historischen Gesetzgebers für den Interpreten irrelevant wären. Ein aus den Materialien hervorgehender, hinter der Gesetzgebung stehender legislativpolitischer Zweck ist auch in der Gegenwart noch zu beachten, sofern sich nicht nachweisen lässt, dass er auf Grund neuer Gegebenheiten obsolet geworden ist. Hier zeigt sich die Nähe zwischen der objektiv-teleologischen und zur objektiv-zeitgemässen (historischen) Auslegung.
Das teleologische Auslegungselement ist mit dem grammatikalisch, dem systematischen und dem historischen insofern verbunden, als es von ihnen abhängig ist: Der Zweck einer Regelung erschliesst sich einem nämlich aus ihrem Wortlaut; aus dem systematischen Zusammenhang, in dem sie steht; und durch den Gesetzgebungsarbeiten, aus denen sie hervorgegangen ist.
Frage: Welche Bedeutung hat der Wortlaut im Rahmen der sprachlich-grammatikalischen Auslegung für die Norminterpretation?
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Das sprachlich-grammatikalische Auslegungselement beschäftigt sich mit dem Wortlaut. Der Wortlaut des Gesetzes und der ihm zu entnehmende Wortsinn sind der Ausgangspunkt jeder Interpretation. Der Wortsinn ist in der Regel das wichtigste Indiz für den Normsinn.
Mag aber der Wortlaut auch, isoliert betrachtet, eindeutig erscheinen – der daraus abgeleitete Normsinn muss in jedem Fall kritisch hinterfragt werden, denn allenfalls ergibt sich aus weiteren interpretativen Überlegungen, dass der mit dem Wortsinn identifizierte Normsinn doch nicht überzeugt, dass entgegen dem Wortlaut eine plausiblere Deutung vorzuziehen ist. Ziel der Auslegung ist es nämlich, den normativen Sinn einer Bestimmung zu ermitteln, deswegen muss stets – also selbst bei einem sprachlich eindeutigen Wortsinn – vom Rechtsanwender geprüft werden, ob der Wortsinn im gegebenen Fall dem Normsinn entspricht. Das wiederum setzt ein Verständnis des Normsinns und damit also eine Auslegung der Norm anhand der verschiedenen Auslegungselemente voraus. Bestehen triftige Gründe dafür, dass der klare Wortlaut den wahren Rechtssinn einer Vorschrift – die ratio legis – nicht wiedergibt, ist es zulässig, von ihm abzuweichen und die Vorschrift entsprechend zu deuten; dann bildet auch der klare Wortlaut einer Bestimmung keine Grenze der Auslegung.
Hierzu heisst es in BGE 111 Ia 292 (E. 3b): „Es stellt sich (…) die Frage, ob eine (…) Interpretation gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der allgemeinen hermeneutischen Auslegungsgrundsätze zulässig ist. Auszugehen ist dabei von der konstanten Praxis, wonach die Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur dann abweichen darf, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben. (…) Entscheidend ist danach nicht der vordergründig klare Wortlaut einer Norm, sondern der wahre Rechtssinn, welcher durch die anerkannten Regeln der Auslegung zu ermitteln ist.“
Frage: Wie sieht es bei der Gesetzesinterpretation bezüglich des Verhältnisses der verschiedenen Auslegungselemente untereinander aus? Besteht eine Rangfolge?
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Die verschiedenen Auslegungselemente stellen nicht etwa Alternativen dar, zwischen denen der Rechtsanwender wählen muss, sondern sie sind grundsätzlich zu kombinieren. Es gilt also ein Methodenpluralismus, wobei das Ergebnis in einem ersten Schritt widersprüchlich ausfallen kann, da die verschiedenen nebeneinander stehenden Auslegungselemente in unterschiedliche Richtungen weisen können. In solchen Fällen ist dann weder ein bestimmtes Element für sich allein ausschlaggebend, noch sind die Argumente zahlenmässig gegeneinander abzuwägen, sondern massgebend ist ihr Gewicht im Einzelfall. Besondere Bedeutung kommt dem Wortlaut als „starting point“ der Auslegung zu.
Das Bundesgericht führt betreffend seiner vom Methodenpluralismus geleiteten Auslegung u. a. in BGE 136 V 216(E. 5.1) aus: „Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck (…) sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien - bei noch kaum veränderten Umständen oder gewandeltem Rechtsverständnis - eine besondere Stellung zu. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab.“