4.1.1 Vorbemerkung zur juristischen Fachsprache

Juristen bedienen sich grossenteils der Alltagssprache; sie müssen dies schon allein deshalb, weil sich Rechtstexte oft nicht nur an Experten richten und auch für rechtsunkundige Adressaten bzw. ein weiteres Publikum verständlich sein müssen.

Beispiele: termGesetze, termUrteilsbegründungen, termVerträge.

Andererseits ist die juristische Sprache aber auch eine Fachsprache: Sie weist viele Eigenarten auf, die mitunter Anlass für Klagen (im Sinne der Alltagssprache!) sind, etwa über das undurchdringbare juristische „Fachchinesisch“ in einer behördlichen Verfügung oder das verklausulierte „Kleingedrucktete“ in einem Vertrag.

Besonderheiten der juristischen Fachsprache:

Abstraktheit

Gesetzliche Regelungen müssen zwangsläufig schematisieren; eine Bestimmung soll immer eine ganze Gruppe von Fällen erfassen. Die kasuistische Methode, die versucht, die ganze Vielfalt der Lebenssachverhalte durch möglichst detaillierte Normen zu erfassen, ist in der heutigen Gesetzgebung weitgehend überwunden. Stattdessen geht der Gesetzgeber bewusst davon aus, dass eine gesetzliche Ordnung immer und unvermeidlich lückenhaft bleiben muss, formuliert die Regelungen abstrakt und vertraut hinsichtlich der jeweils angemessenen Anwendung im Einzelfall auf die Fähigkeit der Gerichte.

Beispiel: „Wer Eigentümer einer termSache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach seinem Belieben verfügen.“ (ZGB 641 I)

(Die Abstraktheit der Gesetzessprache schliesst nicht aus, dass der Gesetzgeber allgemeinen bzw. [Ober-]Begriffen manchmal durch beispielhafte Aufzählungen zu grösserer Anschaulichkeit verhilft.)

Beispiel: ZGB 670

Schlichtheit, Nüchternheit

Beispiel: OR 253

Die juristische Sprache ist vergleichbar mit einem Werkzeug, das in erster Linie benutzt wird, um klare, unmissverständliche Texte herzustellen - Präzision und Logik gehen daher Eleganz und Ästhetik vor. Ausnahmen bilden etwa Präambeln bei völkerrechtlichen Verträgen und Verfassungen, wo nicht selten Pathos mitschwingt.

Beispiel: Präambel BV

Knappheit vs. Ausführlichkeit

Juristische Texte sind häufig schnörkellos und knapp. Sie beschränken sich in der Regel auf das Wichtigste, nicht zuletzt im Dienste der Übersichtlichkeit. Manchmal weisen sie allerdings auch einen beachtlichen Detaillierungsgrad auf; meist ist dies der Fall in Rechtsgebieten, wo nicht der Grundsatz der Privatautonomie herrscht und die der Staat zum Schutz Einzelner oder der Allgemeinheit weitestgehend durch zwingendes Recht geregelt hat.

Beispiel: BetmG 19 I

Aber auch in Verträgen treffen die Parteien oft sehr ausführliche Regelungen. Sinn davon ist es, im Rahmen der termPrivatautonomie ein individuell befriedigendes, „massgeschneidertes“ Rechtsverhältnis zu gestalten und zugleich zu verhindern, dass es zu Unklarheiten kommt, bei denen im Streitfall ein Gericht aufgrund der subsidiär vom Gesetz bereitgestellten generellen Normen entscheiden muss. Denn dann besteht für beide Partien, selbst für die obsiegende, das Risiko, dass die autoritative festgestellte Lösung unbefriedigend bzw. suboptimal ausfällt. Ohnehin sind mit einer Streitaustragung vor Gericht oft für beide Parteien schwer kalkulierbare Verlustrisiken verbunden, da der Ausgang des Verfahrens selten mit völliger Sicherheit vorherbestimmt ist.

Sehr ausführliche Regelungen finden sich auch in sog. Massenverträgen. Hier arbeitet eine Partei (z.B. ein Grossunternehmen), die das entsprechende Vertragsverhältnis gewerbsmässig eingeht und hinsichtlich Spezialwissen und Erfahrung im Vorsprung ist, einen (v. a. die eigenen Interessen und Absicherungsbedürfnisse detailliert aufnehmenden) Standardvertrag aus, der dann von allen Kunden jeweils global, also ohne eigentliche Vertragsverhandlungen im Einzelnen, akzeptiert wird.

Beispiel: Allgemeine Geschäftsbedingungen (sie sind Bestandteil des Kreditkartenvertrags) für die Benutzung einer UBS-Mastercard

Technizität

Vor allem Spezialgesetze, die sich mit technischen Materien befassen und sich in erster Linie an Fachleute und spezialisierte Behörden richten, weisen oft eine hohe Technizität auf. Sie enthalten viele Fachtermini, Verweisungen auf andere Gesetze und standardisierte Normen.

Beispiel: Art. 7 der Verordnung über die Abgasemissionen von Schiffsmotoren auf schweizerischen Gewässern (Emissionsgrenzwerte)

Auslegungsbedürtige Fachausdrücke

Eine Tücke der Gesetzessprache besteht darin, dass sie juristische Fachausdrücke verwendet, deren Bedeutung bisweilen nicht oder nur teilweise mit dem alltäglichen Sprachgebrauch übereinstimmt. Das Wissen um den genauen Bedeutungsinhalt dieser spezifischen rechtlichen Begriffe ist jedoch notwendige Voraussetzung, um entscheiden zu können, ob die Tatbestandsmerkmale einer Norm erfüllt sind (ob also ein bestimmter Sachverhalt unter das Gesetz zu subsumieren ist), sodass die entsprechenden, gesetzlich festgelegten Rechtsfolgen eintreten. Manchmal definiert das Gesetz selbst die verwendeten Begriffe (Legaldefinitionen; vgl.das „Zugehör“ einer Sache in ZGB 644 II). Meist muss ihre Bedeutung aber durch Auslegung des Gesetzestextes erschlossen werden.

Beispiel:

Nach Art. 22 des Bundesgesetzes über die Raumplanung dürfen „Bauten und Anlagen“ nur mit behördlicher Bewilligung errichtet werden. Diese wird nur erteilt, wenn die gesetzlichen Bedingungen erfüllt sind (z. B. Zonenkonformität, ausreichender Zugang, Anschluss an Kanalisation etc.) Wie steht es nun, wenn der zivilisationsmüde X auf seinem ausserhalb der Bauzone, direkt am Waldrand gelegenen Schrebergartengrundstück einen Wohnwagen aufstellen will, um wenigstens an den Wochenenden den Stadtlärm hinter sich zu lassen und in der Natur übernachten zu können? Hier stellt sich die zentrale Rechtsfrage, ob ein Wohnwagen als „Baute“ im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist oder nicht. Je nachdem wäre das Aufstellen des Wohnwagens entweder bewilligungspflichtig, und die Behörde könnte das Vorhaben (z.B. wegen fehlender Zonenkonformität) verhindern. Oder X könnte es sich ohne weiteres in seinem Wohnwagen gemütlich machen ohne sich Gedanken zu machen um irgendwelche baurechtlichen Anforderungen, da die baurechtlichen Bestimmungen auf seinen Fall nicht anwendbar sind.

Das Bundesrecht äussert sich nicht näher dazu, was genau mit „Baute“ gemeint ist; es muss also ausgelegt werden: Gemäss bundesgerichtlicher Rechtssprechung gelten als Bauten: "jedenfalls jene künstlich geschaffenen und auf Dauer angelegten Einrichtungen, die in bestimmter fester Beziehung zum Erdboden stehen und die Nutzungsordnung zu beeinflussen vermögen, weil sie entweder den Raum äusserlich erheblich verändern, die Erschliessung belasten oder die Umwelt beeinträchtigen. Dazu gehören auch Fahrnisbauten [Fahrnis = bewegliche Sache], welche über nicht unerhebliche Zeiträume ortsfest verwendet werden." Dies ist eine sehr allgemeine Definition mit zahlreichen unbestimmten Formulierungen, die jedenfalls dem gesetzauslegenden Rechtsanwender keine direkte allgemein-gültige Antwort auf dem Tablett liefert, wie Wohnwagen generell zu qualifizieren seien. Er muss deshalb die termKriterien, aufgrund derer etwas zur „Baute“ im Sinne des Gesetzes wird, erforschen. Dadurch ergibt sich schliesslich, ob ein bestimmter Wohnwagen in einer bestimmen Umgebung unter dieses zu subsumieren ist.

Die Kantone schreiben in ihren Baugesetzen oftmals weitere Präzisierungen des bundesrechtlichen Bautenbegriffs fest, um eine möglichst auslegungsarme Rechtsanwendung und einheitliche Handhabung der Baubewilligungspflicht zu fördern. So wird etwa im Kanton Zürich in der „Verordnung über die nähere Umschreibung der Begriffe und Inhalte der baurechtlichen Institute (Allgemeine Bauverordnung)“ z. B. der Begriff „Bauten und Anlagen“ genauer umschrieben (Wohnwagen werden allerdings auch hier nicht explizit genannt). Anders etwa im Kanton Aargau: Hier findet sich im Baugesetz eine Legaldefinition von „Baute“ - mit expliziter Erwähnung von Wohnwagen. Läge X’s Schrebergarten im Aargau, könnte er also durch einen Blick ins Gesetz direkt feststellen, dass sein Wohnwagen eine „Baute“ im Sinne des Gesetzes – und somit bewilligungspflichtig - ist, wenn er „länger als 2 Monate auf dem gleichen Grundstück abgestellt“ ist.

Mehrdeutigkeit von Rechtsbegriffen in verschiedenen Rechtsgebieten

Eine andere Besonderheit der Rechtssprache ist die, dass ein und derselbe Rechtsbegriff je nach Rechtsgebiet oder Zusammenhang eine unterschiedliche Bedeutung haben kann. Es kann übrigens durchaus vorkommen, dass diese Divergenz nicht augenfällig ist und sich auch dem Juristen erst bei genauerer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung erschliesst.

Beispiel: Art. 7 Abs. 7 des Bundesgesetzes über den Umweltschutz enthält eine Legaldefinition der „Anlagen“. Dieser Anlagenbegriff ist jedoch mit demjenigen im (zuvor erwähnten) Art. 22 des Bundesgesetzes über die Raumplanung nicht identisch.

Können Sie ein Beispiel für mehrdeutige Rechtsbegriffe nennen?

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Lateinische Begriffe und Wendungen

Häufig trifft man in der juristischen Sprache lateinische Begriffe und Formeln an, was sich durch den nachhaltigen Einfluss des römischen Rechts auf unsere heutige Rechtsordnung erklärt wie auch durch ihre Griffigkeit.

Beispiele:

in casu ("Im vorliegenden/konkreten Fall"); ratio legis ("Sinn/Zweck des Gesetzes"); in dubio pro reo („Im Zweifel für den Angeklagten“; Grundsatz des Strafprozessrechts, demzufolge zugunsten des Angeklagten entschieden werden muss, wenn dessen Schuld nicht einwandfrei bewiesen ist.); pacta sunt servanda („Verträge müssen eingehalten werden.“); volenti non fit iniuria („Wer in eine Handlung einwilligt, dem geschieht kein Unrecht.“); nulla poena sine lege („Keine Strafe ohne Gesetz“; vgl. StGB 17); lex specialis derogat legi generali ("Gibt es eine spezielle Bestimmung, so geht diese der allgemeinen Bestimmung vor.").

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